"Ich bin definitiv kein Single-Typ"
Im Jahr 1993 wurde der 15. Mai von den Vereinten Nationen zum Internationalen Tag der Familie erklärt. Für katholisch.de ein guter Anlass für ein Interview mit Deutschlands Familienbischof. Berlins Erzbischof Heiner Koch, der Vorsitzende der Kommission für Ehe und Familie der Deutschen Bischofskonferenz, spricht darin über seine eigene Familie sowie über aktuelle Herausforderungen für Familien in Deutschland. Außerdem äußert sich der 64-Jährige zwei Jahre nach der Entscheidung des Bundestags für die "Ehe für alle" zur Aktualität des katholischen Ehebegriffs.
Frage: Herr Erzbischof, was bedeutet für Sie Familie?
Koch: Familie ist viel mehr als "Vater, Mutter, Kind", Familie ist eine Gemeinschaft von miteinander verwandten Menschen, von Angehörigen, die über mehrere Generationen hinweg verbunden sind. Wenn das Leben es gut mit uns meint, ist die Familie der Ort, an dem sich unser Leben – begleitet von liebevollen Eltern und Geschwistern – in einem geschützten Raum entwickeln kann. Bedauerlicherweise ist dieses Geschenk aber nicht jedem Menschen gegeben. Familie kann leider auch ein Ort sein, der mit Schmerzen und Enttäuschungen verbunden ist.
Frage: Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrer Familie gemacht?
Koch: Ich habe großes Glück gehabt. Meine Familie hat mich geprägt und ganz wesentlich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Wie sehr heute noch die Traditionen meines Elternhauses in mir drin stecken, merke ich manchmal an ganz kleinen Dingen: Weihnachten zum Beispiel kann ich mir ohne die schlesische Weißwurst, die es früher bei meinen Eltern immer gab, bis heute nicht vorstellen. Dabei bin ich bereits in Düsseldorf geboren.
Frage: Es ist also nicht übertrieben, wenn man Sie als Familienmensch bezeichnet?
Koch: Ein Leben ohne meine Familie könnte ich mir gar nicht vorstellen. Vor allem mit meiner Schwester, meinen Neffen und deren Familien pflege ich ein gutes und enges Miteinander, auch wenn ich rein räumlich ziemlich entfernt von Ihnen lebe.
„Wenn ich nicht Priester geworden wäre, hätte ich gerne eine Familie gegründet, falls eine Frau, die ich liebe, dazu bereit gewesen wäre.“
Frage: Bedauern Sie es vor diesem Hintergrund, dass Sie als Priester nie selbst eine Familie gründen konnten?
Koch: Ich lebe zölibatär, aber dieses Leben ist etwas Anderes als das Leben eines Junggesellen, sondern ein sehr auf Gemeinschaft ausgerichtetes Leben. Ich bin definitiv kein Single-Typ. Wenn ich nicht Priester geworden wäre, hätte ich gerne eine Familie gegründet, falls eine Frau, die ich liebe, dazu bereit gewesen wäre. Aber es ist anders gekommen – und eine eigene Familie zu gründen, war im Grunde genommen für mich dann nie ein Thema. Ich habe aber schon sehr früh neben meinem Elternhaus auch meine Heimatpfarrei als Familie erlebt. Die Kinder- und Jugendjahre haben mich diesbezüglich enorm geprägt. Bei unserem Pfarrer sind wir damals ein- und ausgegangen; wir waren da fast schon zu Hause. Insofern bin ich nie auf die Idee gekommen, dass das Leben als Priester einsam sein könnte. Und ich selbst habe das später auch nicht so erlebt. Als Kaplan und später als Studierendenpfarrer habe ich viele Paare getraut und Kinder getauft. Ich habe mich bei diesen Menschen immer auch ein Stück zu Hause gefühlt, als Teil einer lebendigen Pfarrfamilie.
Frage: Blicken wir auf die gesellschaftliche Situation. In Deutschland gibt es eine Fülle familienpolitischer Leistungen im Umfang von mehr als 130 Milliarden Euro. Auf dem Papier werden Familien vom Staat also umfangreich unterstützt. Trotzdem klagen viele Familien, dass ihr Alltag an der Belastungsgrenze stattfindet. Was läuft da falsch?
Koch: Zunächst einmal: Die 130 Milliarden Euro, die Sie genannt haben, sind irreführend. Zu einem großen Teil setzt sich diese Summe nämlich gar nicht aus tatsächlich familienunterstützenden Maßnahmen zusammen. Vielmehr werden hier zum Beispiel auch Rückerstattungen von Steuern vereinnahmt, die der Staat zu viel – etwa auf Grund der Steuerfreistellung des Kinderexistenzminimums – den Familien entzogen hat. Aber zu Ihrer Frage: Ein entscheidender Grund für die Belastungen, mit denen Familien heute zu kämpfen haben, sind die dramatisch steigenden Lebenshaltungskosten, insbesondere bei den Mieten. Gerade in Großstädten müssen heute oft beide Elternteile arbeiten, damit die Familie überhaupt über die Runden kommt. Hier braucht es mehr und zielgenauere Unterstützung für Familien. Allerdings wird Geld allein dabei nicht die Lösung sein.
Frage: Sondern?
Koch: Familien brauchen dringend auch mehr gemeinsame Zeit miteinander. Insbesondere die Veränderungen in der Arbeitswelt – zum Beispiel die kontinuierliche Ausweitung der Ladenöffnungszeiten – haben in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass Familien kaum noch Zeit miteinander verbringen können. Für gemeinschaftliche Familienerfahrungen gibt es im Alltag heute kaum noch Raum. Das halte ich für fatal!
Frage: Das berührt die wichtige Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sehen Sie angesichts der Anforderungen der modernen Arbeitswelt überhaupt eine Chance, hier zu positiven Veränderungen für die Familien zu kommen?
Koch: Ja, da bin ich optimistisch. Ich weiß von vielen Firmen und Betrieben – auch im kirchlichen Raum –, die sich inzwischen sehr darum bemühen, familienfreundliche Beschäftigungsmodelle zu entwickeln. Und ich denke, dass das in den kommenden Jahren noch zunehmen wird. Die meisten Unternehmen haben mittlerweile verstanden, dass eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf für viele Arbeitnehmer ein entscheidender Faktor ist, den man nicht mehr ignorieren kann.
Frage: Kommen wir zu einem anderen Thema: Die katholische Definition von Ehe und Familie ist sehr klar. Allerdings ist sie immer weniger kompatibel mit der gesellschaftlichen Realität, die gerade in letzter Zeit von einer enormen Vielfalt familiärer Lebensmodelle gekennzeichnet ist. Muss die Kirche diese Vielfalt stärker anerkennen?
Koch: Man muss Ehe und Familie in dieser Frage genau anschauen. Wenn es darum geht, was Familien in all ihrer Vielfalt ausmacht und vor welchen Herausforderungen sie stehen, sehe ich zwischen Kirche und Gesellschaft einen großen gemeinsamen Nenner. Das erlebe ich zum Beispiel bei der Kooperation mit nichtkirchlichen Familienverbänden. Mit Blick auf das Eheverständnis ist das anders. Hier ist die Spannung zwischen Kirche und Gesellschaft tatsächlich deutlich spürbar.
Frage: Ein Beispiel für diese Spannung ist die "Ehe für alle", die vor bald zwei Jahren vom Bundestag beschlossen wurde. Sie haben die Entscheidung des Parlaments damals scharf kritisiert. Hat sich Ihr Blick auf das Thema inzwischen verändert?
Koch: Nein, meine Kritik halte ich aufrecht. Das betrifft zum einen die Art und Weise, wie der Bundestag die "Ehe für alle" damals beschlossen hat. Eine so weitreichende Entscheidung – auch angesichts der sich daraus ergebenden verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Fragen – quasi im Hauruckverfahren durch das Parlament zu bringen, halte ich auch rückblickend für hochproblematisch. Zum anderen: Aus katholischer Sicht ist und bleibt die Ehe eine auf Dauerhaftigkeit angelegte partnerschaftliche Verbindung zwischen Frau und Mann, die grundsätzlich offen für die Weitergabe des Lebens ist. Dass der Bundestag durch seine Entscheidung den bisherigen Begriffsgehalt der Ehe über den Haufen wirft und mit dem Begriff Ehe eine andere Wirklichkeit als bisher verbindet, ist bedauerlich. In dieser Sprachenverwirrung müssen wir umso entschiedener unsere katholische Überzeugung auch gesellschaftlich vertreten.
„Das Ehesakrament ist das größte Startgeschenk, das ein sich liebendes Paar am Beginn seines gemeinsamen Lebensweges bekommen kann.“
Frage: Angesichts der ablehnenden Haltung zur "Ehe für alle" würden sich viele homosexuelle Paare für ihre Verbindung zumindest einen kirchlichen Segen wünschen. Das lehnt die Kirche jedoch ebenfalls ab – unter anderem mit der Begründung, dass das Ehesakrament dadurch entwertet werden könnte. Ein sehr schwaches Argument, oder?
Koch: Wir sind bei der Frage eines Segens für homosexuelle Paare an die Vorgaben der Kirche gebunden. Nicht nur Papst Franziskus und seine Vorgänger sehen und sahen die Gefahr, dass das Ehesakrament mit einer Segnung anders geprägter Beziehungen verwechselt werden könnte. Und in der Tat glauben viele Menschen, dass das Ehesakrament nur ein Segen für eine bestimmte Lebensform unter anderen ist. Andererseits kann ich nachvollziehen, dass viele homosexuelle Katholiken unter der ablehnenden Haltung ihrer Kirche leiden – und das liegt mir auf der Seele.
Frage: Wie gehen Sie damit um?
Koch: Bei Gesprächen mit Betroffenen versuche ich immer wieder, die Position der Kirche zu erläutern und um Verständnis zu werben. Ich trage das Problem aber auch meinen Mitbrüdern und in Rom vor. Das Dilemma in dieser Frage wird dort auch gesehen.
Frage: Sie haben eben angedeutet, dass viele Menschen heute gar nicht mehr wüssten, worum es beim Ehesakrament überhaupt geht. Bereits kurz nach der Entscheidung des Bundestags für die "Ehe für alle" hatten sie angekündigt, künftig stärker für das katholische Eheverständnis werben zu wollen und die Ehevorbereitung zu intensivieren. Was ist aus diesem Vorhaben geworden?
Koch: Wie sind dabei auf einem guten Weg. Wir haben auf Ebene der Deutschen Bischofskonferenz etwa beschlossen, die Ehevorbereitung qualitativ zu verbessern. Das läuft in den Bistümern jetzt an, und nach drei Jahren werden wir evaluieren, was daraus geworden ist. So oder so müssen wir uns aber klar machen, dass eine gute Ehevorbereitung heute oftmals fast schon ein ganzer Glaubenskurs sein muss, da man das Glaubenswissen, das früher vielleicht noch vorhanden war, heute nicht mehr automatisch voraussetzen kann.
Frage: Eine kirchliche Eheschließung ist für Paare heute nur eine Möglichkeit unter vielen. Warum sollte man sich trotzdem dafür entscheiden?
Koch: Das Ehesakrament ist das größte Startgeschenk, das ein sich liebendes Paar am Beginn seines gemeinsamen Lebensweges bekommen kann. Das Ehesakrament ist ein wahrhaftiges Hoffnungssakrament: Wir können darauf vertrauen, dass Christus uns unser ganzes gemeinsames Leben begleitet und uns mit all unseren Schwächen annimmt und liebt. Die christliche Ehe ist damit ein großartiges Glaubensbekenntnis! Hinzu kommt: Die christliche Ehe erfüllt die tiefe Sehnsucht des Menschen nach Verbindlichkeit. Ich möchte verbindlich geliebt werden, und ich möchte will mich darauf verlassen können, dass mein Partner bei mir bleibt. Diese Verbindlichkeit ist ein zentrales Element der christlichen Ehe.