Für die Mormonen kam Jesus nach Amerika
Am Ende der Straße ist das Gebäude eines großen schwedischen Möbelhauses zu erkennen, in der Ferne sieht man ein paar gesichtslose Wohnklötze: Es ist der Stadtrand von Rom, an dem in den vergangenen Jahren der größte Mormonentempel Europas emporgewachsen ist. Wobei: "Mormonen" wollen sie nicht mehr genannt werden. Sie bestehen vielmehr auf den etwas sperrigen Begriff "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage". 16 Millionen Menschen weltweit sind Mitglieder dieser Gemeinschaft, über die viele Menschen nur wenig wissen. Alles begann im 19. Jahrhundert in den damals noch recht jungen Vereinigten Staaten von Amerika:
"Während ich so dabei war, Gott anzurufen, bemerkte ich, wie in meinem Zimmer ein Licht erschien, das immer stärker wurde, bis es im Zimmer schließlich heller war als am Mittag; gleich darauf wurde an meinem Bett eine Gestalt sichtbar, und der Betreffende stand in der Luft, denn seine Füße berührten den Boden nicht." So beschreibt Joseph Smith, wie ihm am 21. September 1823 der Prophet Moroni erschienen ist. "Er sagte, es sei ein Buch verwahrt, auf Goldplatten geschrieben, darin sei ein Bericht über die früheren Bewohner dieses Erdteils und ihre Herkunft zu finden. Er sagte weiter, darin sei die Fülle des immerwährenden Evangeliums enthalten, wie es der Erretter den Bewohnern vor alters gebracht habe." In diesem Augenblick beginnt die Geschichte des Buchs Mormon und damit die Entstehung der "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage".
Moroni führte Smith zu den Goldplatten, die er mit Hilfe von zwei Kristallen ins Englische übersetzen und Helfern diktieren konnte. Schon in der einer der ersten oben zitierten Bemerkungen Moronis gegenüber Joseph Smith zeigt sich: "In unserem Selbstverständnis sind wir die Fortsetzung der Urkirche in ihren Lehren und ihrem Muster", sagt der Deutschland-Sprecher der Gemeinschaft, Ralf Grünke. Es geht also darum, auf Grundlage des Buchs Mormon ein "ursprüngliches" Christentum wiederherzustellen, das nach Meinung der Anhänger Smiths im ersten Jahrhundert verloren gegangen ist. "Uns ist das Buch Mormon weniger deshalb wichtig, weil es die Bibel ergänzt, sondern weil es einen weiteren Zeugen darstellt, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist." Es geht in der Gemeinschaft also ganz zentral um die persönliche Glaubenserfahrung: Deshalb steht für die Mitglieder das Buch Mormon mit zwei weiteren neueren Glaubenszeugnissen von Kirchenpräsidenten auf einer Stufe mit der Bibel.
Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt für die Kirche wird klar, wenn man einen Blick auf den Inhalt des Buchs Mormon wirft: Es handelt nämlich davon, dass Jesus Christus nach seiner Himmelfahrt noch einmal zurück auf die Erde kommt – und zwar nach Amerika. Diese Vision passte in die USA der damaligen Zeit, in das "Great Awakening", sagt Johannes Lorenz, Weltanschauungsbeauftragter des Bistums Limburg: "Das war ein Zeitraum zwischen 1790 und 1830, wo in den USA viele religiöse Erweckungsbewegungen auf den Markt getreten sind", eine davon war die "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage". Bis heute ist sie eine der erfolgreichsten der vielen Neureligionen – auch wegen ihres amerikanischen Ansatzes: "Das war für das Selbstbewusstsein der jungen USA eine Religion, die diese Aufbruchsstimmung heilsgeschichtlich und religiös fundiert hat", sagt Lorenz.
Religion nach amerikanischem Muster
Diese amerikanische Denkart der Religion lässt sich in einem zentralen Glaubensgrundsatz beobachten: Dem "Gesetz des immerwährenden Fortschritts" ("law of eternal progression"). Wie im amerikanischen Traum der Tellerwäscher zum Millionär wird, werden die Gläubigen "Gott immer näher und immer ähnlicher", sagt Ralf Grünke – und diese Entwicklung endet nicht mit dem Tod, sondern setzt sich auch danach fort.
Dass auf der Erde Begonnenes nach dem Tod weitergeht, zeigt sich in einigen Ritualen: So ist das Besondere der "Siegelung", der Hochzeit, dass sie nicht wie in den christlichen Kirchen durch den Tod geschieden wird, sondern auch darüber hinaus gilt. Auch in Sachen Taufe denken die Kirchenmitglieder an die Verstorbenen: So werden in den Tempeln Totentaufen praktiziert, in denen sich Gläubige stellvertretend für ihre länger wie kürzer verstorbenen Angehörigen taufen lassen. Eine Praxis, die nicht ganz unumstritten ist: Als 2012 eine Gruppe Anne Frank durch einen Stellvertreter getauft haben soll, sorgte das weltweit für Irritationen und die Gemeinschaft versprach, keine Holocaust-Opfer mehr nachträglich zu taufen.
Weil die Verstorbenen für Mormonen weiter eine wichtige Rolle spielen, machen sie sich mit großangelegter Ahnenforschung auf die Suche nach ihnen: Die Gemeinschaft hat eine riesige Genealogie-Datenbank aufgebaut, von über zwei Milliarden Einträgen ist die Rede – die größte ihrer Art weltweit. Damit können Gläubige weitere Vorfahren ausfindig machen, die sie dann taufen lassen können.
Zwischen Siegelung und Toten-Taufe
Diese Taufen finden in Tempeln statt, die in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage eine besondere Rolle spielen: Das normale Gemeindeleben spielt sich in Gemeindezentren ab, dort werden Gottesdienste gefeiert und Kinder getauft. Die Tempel sind Ritualen wie der Totentaufe und der Siegelung vorbehalten, sie werden also vor allem für besondere Anlässe besucht. Betreten darf die Tempel nur, wer sich in der Kirche engagiert und sich auf den Besuch geistlich vorbereitet – dafür vergibt eine Gemeinde dann eine Bescheinigung, mit der ein Gläubiger bei einem Tempel um Einlass bitten kann. Tempel sind also im Gegensatz zu Kirchen, Synagogen oder Moscheen keine öffentlichen Räume, Nicht-Mitglieder haben keinen Zutritt und über die genauen Abläufe der Rituale halten die Teilnehmer Stillschweigen. In der Regel können Interessierte aber einen neu-gebauten oder renovierten Tempel besichtigen, bevor er geweiht wird – zum Beispiel gerade den Tempel in Rom.
Einen kaum überschätzbaren Stellenwert bei den Mitgliedern der Kirche hat die Familie. Religiöse Bildung findet vor allem dort statt. Das heißt, sagt Ralf Grünke, "dass man als Familie gemeinsam den Glauben erfährt, sich austauscht, in der Heiligen Schrift liest und betet." Diese hohe Stellung der Familie hängt wiederum mit dem Leben nach dem Tod zusammen. Denn da bleibt das Band der Familie bestehen, bis in Ewigkeit, sagt er: "Ich weiß, dass ich mich hier auf eine Beziehung mit Menschen einlasse, die über den Tod hinaus erkennbar bleibt. Wenn ich dann Menschen begegne, erkenne ich sie als Vater, Mutter oder Ehefrau".
Neben dem Glaubensleben in der Familie engagieren sich viele Kirchenmitglieder auch in ihrer Gemeinde. Die kommt nämlich vollkommen ohne Hauptamtliche aus. In Anlehnung an Vorbilder aus der Bibel ist die Gemeinschaft eine Laienkirche: Laien stehen einem Gottesdienst vor und leiten als Bischof eine Gemeinde, auch das Predigtrecht üben sie aus. Jedes Mitglied, das dazu nach Meinung der Gemeindeleitung bereit und in der Lage ist, kann im Gottesdienst predigen. Daneben engagieren sich die Gläubigen sozial und besuchen etwa alleinstehende Senioren.
Weltweite Mission
Die öffentlichkeitswirksamste Seite dieses Engagements für die eigene Kirche ist der Missionsdienst: Junge Männer sollen zwei, junge Frauen anderthalb Jahre auf eigene Kosten für die Kirche missionieren und werden dazu in ein anderes Land geschickt – in welches, entscheidet die Kirchenleitung. Deshalb stehen US-Amerikaner in deutschen Straßen und Sprösslinge aus Deutschland gehen etwa nach Kanada oder England. Diese Zeit soll für die jungen Leute einen Charakter haben, den man wohl am ehesten mit dem Benediktinermotto "Ora et Labora" vergleichen kann: Die Missionare sollen weder Party machen, noch anderen Genüssen fröhnen, sondern sich auf ihren persönlichen Glauben konzentrieren und darauf, ihn weiterzugeben. Alkohol, schwarzer Tee, Tabak und andere Drogen sind für Gläubige sowieso generell tabu.
In Sachen Mission geht es laut Ralf Grünke aber nicht darum, Massen in die Kirche zu holen – und das schaffen die Missionare auch nicht: Es gibt etwa 40.000 Kirchenmitglieder in Deutschland, deren Zahl seit Jahren mehr oder weniger stagniert. Zwar wächst die Gemeinschaft international, "aber nicht in Europa", sagt Johannes Lorenz, "größere Missionserfolge haben die Mitglieder eher in Asien und Afrika." Da schlägt sich der Erfolg auch in Zahlen nieder. Seit ein paar Jahren wohnen mehr Mormonen außerhalb der USA als innerhalb des Landes.
Was die "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage" eigentlich ist, darüber lässt sich streiten: "Wir sind Christen", sagt etwa Ralf Grünke, während Johannes Lorenz von einer Neureligion spricht. Denn einige Vorstellungen der Mormonen seien mit denen der christlichen Kirchen nicht kompatibel: So sind für die Gemeinschaft Gottvater, Sohn und Heiliger Geist drei voneinander unabhängige Personen. Auch wird von Mormonen kolportiert, dass das Gesetzt des immerwährenden Fortschritts auf Gott angewendet wird und auch er einst ein Mensch war und durch ein stetes Sich-weiter-entwickeln Gott geworden ist – und diese Möglichkeit damit auch jedem Menschen offen steht. Doch Ralf Grünke wehrt das mit einem Zitat des ehemaligen Kirchenpräsidenten Gordon B. Hinckley ab: "Das führt uns zu ziemlich tiefgehenden theologischen Fragen, über die wir nicht allzu viel wissen."
Bei der Ökumene holpert es
Auch wenn es um Ökumene zwischen der Gemeinschaft und den christlichen Kirchen geht, wird es etwas schwierig: Es gibt nämlich keine. Nachdem die beiden großen Kirchen in Deutschland die Taufe der Gemeinschaft zunächst anerkannt hatten, entschied 1991 die evangelische und 2001 die katholische Kirche, die Taufe abzuerkennen, "weil man gemerkt hat, dass sich hinter den Begriffen, die christlich klingen, völlig andere Vorstellungen verbergen", sagt Johannes Lorenz. Außerdem verstehe sich die "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage" als einzige, die auf dem Heilsweg unterwegs sei. Theologische Gespräche fänden da eher nicht statt. In der Theologie liegt auch das Grundproblem: "Hier ist so eine große Distanz zu unserem Grundverständnis, dass es schwierig ist, in ein ökumenisches Gespräch zu kommen", so Lorenz. Das habe auch etwas damit zu tun, sich gegenseitig ernst zu nehmen und den differierenden Glauben des Gegenübers anzunehmen. "Deswegen kann man trotzdem gut im Gespräch sein." So behandeln Katholiken und Protestanten die Kirche wie eine andere Religion, als die sie auch etwa im Frankfurter Rat der Religionen sitzt.
Eine gefährliche Sekte ist die Organisation für Johannes Lorenz nicht: Er hätte nichts von Konflikten mit ehemaligen Kirchenmitgliedern gehört, die die Gemeinschaft verlassen hätten, sagt er. In der alten Hugenottenstadt Friedrichsdorf auf dem Gebiet des Bistums Limburg steht seit den 1980er Jahren einer von zwei Tempeln, den die Gemeinschaft betreibt. Traf dieser zu seiner Erbauungszeit noch auf Skepsis und Widerstände, "hat sich die Kirche mittlerweile ganz gut integriert", sagt Johannes Lorenz. Mittlerweile kommt der Tempel sogar auf der städtischen Internetpräsenz vor – als Sehenswürdigkeit. Nur auf eines haben die Stadtväter beim Bau bestanden, sagt Johannes Lorenz: "Der Turm musste niedriger sein als der der evangelischen Kirche."