Heiliger der Herzen
Am 16. August 2005, vor zehn Jahren, stach ihn eine geistesgestörte Frau beim täglichen Abendgebet mit einem Messer nieder, das sie noch am Nachmittag gekauft hatte. Ein Schrei fuhr durch die Andacht in der Kirche von Taize. Es gab kurz Bewegung, dann wieder Gesang. Nur wenige in der voll besetzten Kirche bekamen zunächst mit, was geschehen war: Luminita Solcan, Elektroingenieurin aus Rumänien und verhinderte Ordensfrau, hatte Frere Roger ermordet.
Die Überlieferung von dem, was damals geschah, ist so taizegemäß wie nur irgend denkbar: Der blutende Greis wird diskret hinausgetragen und stirbt; ein geistesgegenwärtiger Taize-Bruder stimmt den Gesang "Laudate omnes gentes" an. Lied 23: "Lobt, alle Völker, den Herrn". Die Gemeinschaft bleibt auch in ihrem schlimmsten Moment, was sie ist: vereint im Gebet.
Frere Roger war längst bereit gewesen zu gehen: Dem Tod sah er, schon mit schwacher Stimme, gelassen entgegen - weil Gott den Menschen dann für immer bei sich aufnehme. Und doch bedauerte er, seine Brüder und die Jugendlichen bald verlassen zu müssen. Seine letzten Worte hatte er noch am Nachmittag des 16. August diktiert, aber dann, wohl aus Erschöpfung, mitten im Satz abgebrochen: "ausweiten", das war das Thema. Die Solidarität? Vergebung? Die menschliche Güte?
Eine schöne Fußnote der Geschichte ist, dass der neue Papst Benedikt XVI. den Grußbrief Frere Rogers zum zeitgleich stattfindenden Weltjugendtag in Köln just an dessen Todestag erhält. Jener deutsche Papst, der sogenannte "Panzerkardinal" und oberste vatikanische Glaubenshüter Joseph Ratzinger, der im Jubel von Köln gerade die vielleicht triumphalsten Stunden seiner Amtszeit feiert; und der dem geborenen Calvinisten Frere Roger kurz zuvor, noch als Kardinaldekan, bei der Beisetzung von Papst Johannes Paul II. im April öffentlich die Kommunion gereicht hatte.
Einer, der im Glauben starb
Der deutsche Taize-Bruder und Katholik Frere Alois fährt nach Erhalt der Todesnachricht von Köln aus die ganze Nacht durch, zurück nach Burgund. Er ist jetzt der Prior von Taize, wie es schon seit Jahren feststand. Doch trotz aller Kontinuität und Unaufgeregtheit: Taize ohne Frere Roger, das war zuvor nicht denkbar gewesen.
Aktuell: Kardinal Marx würdigt ökumenisches Zeugnis von Taize
Zum 75. Jahrestag der Gründung von Taize hat der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, die Spiritualität und das Glaubenszeugnis der Gemeinschaft gewürdigt: "Wir sind dankbar für das, was von Taize über so viele Jahre in die Welt ausstrahlt. Das ökumenische Gebet und das Zeugnis für Gott in dieser Gesellschaft sind unverzichtbar. Das lebt Taize mit seiner Gemeinschaft glaubwürdig vor", so Marx in einer Erklärung. Gerade für eine junge Generation habe Taize bis heute nichts von seiner Anziehungskraft verloren: "Es ist gut, wenn wir solche Orte haben, an denen sich Jugendliche mit ihrem Glauben auseinandersetzen und die Gemeinschaft in Christus erfahren können." Gleichzeitig erinnerte er an die Ermordung von Roger Schutz: "Damals begann gerade der Weltjugendtag in Köln, als Frere Roger gewaltsam den Tod fand. Erschüttert von dieser Tat haben tausende Jugendliche auf der ganzen Welt für den Verstorbenen gebetet. Sein geistliches Erbe wirkt bis heute weiter." (luk/KNA)12.000 Menschen kommen zur Beisetzung; allein rund 1.000, die kurz zuvor noch beim Weltjugendtag in Köln gewesen waren. Wer könnte eine Zahl nennen, wie viele Menschenleben der Gründer von Taize durch sein Charisma entscheidend verändert hat? Ist Frere Roger für seinen Glauben gestorben? Ist er ein Märtyrer? Ohne Zweifel ist er in seinem Glauben gestorben - und hätte er nicht diesen Glauben gehabt, wäre er sicher nicht auf diese Weise gestorben. Längst wäre er wohl ein Heiliger, hätte der Calvinist am Ende seines langen Lebens einen zweifelsfrei "katholischen Pass" gehabt. Längst wäre er wohl ein Heiliger, kennte die evangelische Kirche Heilige im katholischen Sinne. Längst wäre er wohl ein Heiliger, wäre seine Vision von christlicher Ökumene bereits Realität geworden. So bleibt Frere Roger einstweilen ein "Heiliger der Herzen".
Das Leben ging weiter. Ein schlichtes Holzkreuz vor der romanischen Kirche in Taize trägt seinen Namen, und immer stehen dort frische Blumen. Warum musste ein 90-jähriger Greis gewaltsam sterben, der Frieden predigte und ihn so vielen Menschen brachte? Der Gottsucher Frere Roger verstand sein irdisches Leben und Wirken nie als Selbstzweck, sondern als eine tägliche Gelegenheit, seinem Nächsten und damit Gott einen Schritt entgegenzugehen. Oder, wie der jüngst verstorbene Autor Manfred Hinrich schrieb: Das Meer hat keinen Sinn - die Schifffahrt hat einen Sinn.
16.08.2015, 15:10 Uhr: alter Info-Kasten durch aktuelle Erklärung von Kardinal Marx ersetzt.