Kardinal Barbarin und das fehlende Verantwortungsgefühl
Es gibt nicht mehr so viele Tage, an denen es die katholische Kirche in Frankreich auf die Titelseite der Zeitungen schafft. Zu Jahresbeginn 2019 ist sie dort gleich mehrfach hintereinander zu finden. Der Grund: ein Missbrauchsprozess gegen mehrere Geistliche in Lyon. Und das Bild, das hier von Kardinal Philippe Barbarin, dem "Primas von Gallien" und einem der höchsten Würdenträger in Frankreich, gezeichnet wird, ist alles andere als werbend für die katholische Kirche.
"Ich habe niemals den sexuellen Missbrauch gedeckt, der von einem Priester begangen wurde", sagte der 68-Jährige am ersten Prozesstag; drei Stunden antwortete er auf die Fragen der Richter. Diese und andere Antworten zeigen nach Meinung vieler Beobachter das Bild eines Bischofs, der auch nach langjähriger Debatte noch nicht begriffen hat, welche Verantwortung die Kirchenspitze im Umgang mit Missbrauch hat. Der Prozess in Lyon wurde vom Opferverein "La Parole Liberee" initiiert. Zehn Mitglieder, ehemalige Pfadfinder und mutmaßliche Missbrauchsopfer des Priesters Bernard Preynat, treten als Nebenkläger auf. Sie werfen Barbarin und sechs anderen Geistlichen die Nichtanzeige sexueller Übergriffe vor. In Frankreich sind alle Bürger gesetzlich verpflichtet, Verdachtsfälle sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen der Justiz zu melden.
Barbarin bestreitet Vorwürfe
Die Vorfälle ereigneten sich in den 1970er Jahren. Preynat soll der Zeitung "La Croix" zufolge im Erzbistum Lyon bis zu 70 Kinder missbraucht haben. Die Eltern eines Opfers sandten 1991 einen Brief mit den Vorwürfen an den Erzbischof. 2002 übernahm Barbarin die Leitung des Erzbistums. Er bestreitet, damals von den Vorfällen gewusst zu haben. Erst 2014, als das mutmaßliche Opfer Alexandre Hezez ihn kontaktierte, habe er davon erfahren. Doch die Informationen nach einem Treffen seien "vage" gewesen, so Barbarin.
Warum hat er den Priester zu diesem Zeitpunkt nicht von seinen Ämtern suspendiert? Preynat habe ihm geschworen, seit 1990 kein Kind missbraucht zu haben, lautete die Antwort. Und warum habe er den Verdachtsfall nicht der Justiz gemeldet? "In diesem Moment habe ich nicht gedacht, dass ich das tun muss, da die Fälle verjährt waren und das Opfer selbst bestätigt hat, dass es nichts mehr ändern könne", sagte Barbarin am Montag im Prozess.
Im Januar 2015 fragte Barbarin im Vatikan um Rat. Rom wies ihn an, keinen Skandal zu provozieren und den Priester besser nicht sofort zu suspendieren. Barbarin folgte den Anweisungen, und erst als zum 1. September 2015 Neuernennungen für Pfarrstellen anstanden, wurde Preynat von seinen Ämtern suspendiert. Auf die Frage, warum Preynat heute kein Amt mehr hat, antwortete Barbarin jetzt vor Gericht: "Weil es die Entscheidung ist, die Rom mir vorgeschlagen hat." Die Antworten des Kardinals zeigen vor allem Gehorsam; Verantwortungsgefühl jedoch vermissen die Beobachter. Für ihn sei es wichtig, dass kein Kind nach 1991 missbraucht worden sei, so Barbarin am Montag. Und: "Ich habe nie versucht, etwas zu vertuschen."
Dass der Umgang mit dem Fall "nicht glücklich" war, räumte er ein. Es sei ihm in der Vergangenheit nicht immer gelungen, die "passenden Worte" zu finden. "Aber heute sind meine Worte aufrichtig; sie kommen von tief in mir, meinem Herzen und meinem Glauben", ergänzte der Kardinal. Warum er auf der Anklagebank sitzt, ist ihm nach eigenem Bekunden unklar: "Ehrlich gesagt sehe ich nicht, wofür ich schuldig bin." Die Anhörungen enden am Mittwoch. Wie es danach weitergeht, ist noch unklar.
Zwei Bischöfe wegen Nichtanzeige von Übergriffen verurteilt
Frankreichs Kirche hat sich mittlerweile intensiv mit dem Thema beschäftigt. Bei der Vollversammlung der Bischöfe in Lourdes im November waren acht Missbrauchsopfer zu Gast. Auch Barbarin war anwesend. Die Bischöfe stimmten dafür, eine unabhängige Untersuchungskommission für die Fälle seit 1950 einzusetzen. Zwei Bischöfe waren in Frankreich 2001 und 2018 für die Nichtanzeige von Übergriffen zu Bewährungsstrafen verurteilt worden.
Für Ende Februar hat Papst Franziskus die Spitzen der Bischofskonferenzen weltweit zu Beratungen über Missbrauch und Prävention nach Rom bestellt. Das Treffen soll ein weiterer Schritt sein, um "die Tatsachen vollständig ans Licht zu bringen und die Verletzungen zu heilen, die durch solche Straftaten verursacht wurden", so der Papst beim Neujahrsempfang für das Diplomatische Corps. Ein weiterer Schritt – aber sicher nicht der letzte.