"Mutter Teresa rettete mich aus dem Mülleimer"
Frage: Als Sie ein Baby waren, rettete Mutter Teresa Sie in einem Slum bei Bombay, dem heutigen Mumbai, in Indien. Was bedeutet ihre Heiligsprechung für Sie?
Emmanuel Leclercq: Ich danke Gott dafür. Denn in dieser vom Krieg zerrissenen Welt gibt uns die Kirche eine Figur des Friedens. Mutter Teresa ist wirklich ein Beispiel für den Frieden und für die Liebe zum Menschen, die sie jedem entgegengebracht hat. Sie ist ein Vorbild an Mildtätigkeit und vor allem an Barmherzigkeit. Sie ist die Gestalt der Barmherzigkeit Gottes. Sie hat den Menschen geholfen und ihnen ihre menschliche Würde zurückgegeben. Sie hat mir persönlich meine Würde zurückgegeben: Zehn Tage nach meiner Geburt hat sie mich aus einem Mülleimer gezogen und mich in das Waisenhaus der Schwestern gebracht.
Frage: Wann haben Sie von dieser Geschichte erfahren?
Emmanuel Leclercq: Wir sind in unserer Familie in Frankreich fünf adoptierte Kinder, da meine Eltern keine eigenen haben konnten: zwei Franzosen, zwei Inder und ein Haitianer. Unsere Eltern haben uns schon früh von der Adoption erzählt. Wir haben alle unterschiedliche Biographien und jede ist einzigartig. Wirklich verstanden habe ich die Geschichte meiner Herkunft aber erst, als ich diesen Sommer zum ersten Mal in meinem Leben nach Indien zurückgekehrt bin. In den riesig ausgedehnten Slums von Mumbai arbeitete ich in dem Waisenhaus, in dem ich bis zu meinem elften Monat lebte. Dort traf ich auch eine Schwester, die in dem Haus arbeitete, als ich damals dort ankam. Sie war es, die mir die Geschichte bestätigte.
Frage: Wie war der Aufenthalt in Indien für Sie?
Emmanuel Leclercq: Es waren Momente voller Emotionen, aber auch voller Dankbarkeit. Ich dankte zunächst meinen leiblichen Eltern dafür, dass sie mich am Leben gelassen haben. Sie hätten mich abtreiben oder in einen anderen Eimer legen können. Aber sie ließen mich dort vor dem Orden der Missionarinnen der Nächstenliebe zurück - mit einem Bändchen um den Arm, auf dem mein Geburtsdatum und mein Name standen. Sie wollten, dass ich lebe. Doch in ihrer Armut konnten sie mich nicht aufziehen. Im Wort 'abandonner' [Französisch für 'verlassen/zurücklassen'] steckt das Wort 'donner' [Französisch für 'geben/schenken']: Meine Eltern haben mich zurückgelassen, um mir ein anderes Leben zu schenken. Dieses andere Leben schulde ich Mutter Teresa. Ich danke ihr und ihrem Orden, bei dem ich die ersten Monate meines Lebens verbrachte. Schließlich danke ich meinen französischen Eltern, die mich adoptierten und mir so meine Würde zurückgaben. Wenn ich heute im Leben dort bin, wo ich bin, dann ist es dank ihnen.
Frage: Was bedeutet diese Geschichte Ihrer Herkunft für Ihr Leben?
Emmanuel Leclercq: Es gibt zwei Säulen in meinem Leben: Das sind Papst Johannes Paul II. wegen seines Charismas und Mutter Teresa wegen ihrer Einfachheit und Liebe zu den Menschen. Meine Geschichte heißt für mich: lernen, was Heiligkeit bedeutet. Indien ist ein sehr armes Land. Man darf diese Armut jedoch nicht wollen, sondern die Heiligkeit. Mutter Teresa wandelte die Armut in Heiligkeit, weil sie sie bekämpfte. Mutter Teresa liebte die Menschen, jeden wie er war. Sie wollte die Liebe Gottes weitergeben. Sie rettete alle Männer und Frauen, die sie retten konnte – und tat dies mit einer außergewöhnlichen Heiligkeit. Eine der schönsten Gesten ihrer Heiligkeit war ihr Lächeln. Die Schwester, die ich in Amrawati traf, sagte mir: 'Wenn man Mutter Teresa in die Augen guckte, erkannte man, dass sie Gott sah. Wenn man ihr Lächeln erblickte, verstand man, dass sie Gott dankte.' Ihr Lächeln war einfach, aber sehr wahr.
Linktipp: Das Sakrament der Weihe
Die Weihe ist eines der sieben Sakramente der Kirche. In ihr wirkt Christus selbst an einem Menschen. Katholisch.de erklärt das Sakrament und seine drei Stufen.Frage: Wann haben Sie gewusst, dass Sie Priester werden wollen?
Emmanuel Leclercq: Es war im Alter von vier Jahren, als ich Johannes Paul II. zum ersten Mal sah. 1986 machte er eine Apostolische Reise nach Frankreich. Ich saß ganz vorne vor der Absperrung, wo er vorbeikommen würde. In dem Moment, als er vorbeikam – drei Meter vor mir – sah er mich an und ich hörte eine Stimme, als ob ich mit jemandem sprechen würde. Sie sagte den Satz: 'Du auch, Emmanuel, wirst eines Tages das Priestergewand tragen [Französisch:'habits sacerdotaux'].' Ich erinnere mich, dass ich mich umdrehte, um zu sehen, wer zu mir sprach. Aber alle jubelten dem Papst zu. Am Abend fragte ich meine Mutter nach dem Wort 'sacerdotaux', ohne ihr von dem Satz zu erzählen. Sie erklärte mir, dass es sich um die Kleidung des Priesters handele. An diesem Abend sagte ich 'ja'. Ich wollte die Kleidung des Priesters tragen. An dieser Berufung zweifelte ich nie, doch erst mit 30 Jahren trat ich ins Priesterseminar ein.
Frage: Warum so spät?
Emmanuel Leclercq: Ich glaube, dass ist der Plan Gottes. Mit 18 Jahren verbrachte ich ein Jahr im Seminar, um meine Berufung zu prüfen. Mein Bischof sagte zur mir: 'Du hast die Berufung und du bist sehr jung, geh studieren. Und du wirst sehen, ob der Herr noch immer will, dass du Priester wirst.' Ich studierte also Philosophie und promovierte, unterrichtete am Gymnasium und an der Universität. Ich wusste, dass ich eines Tages Priester werden würde, aber ich wusste nicht, wann. Vor nun fast vier Jahren hat er mich wieder gerufen.
Frage: Priester sein – was bedeutet das für Sie?
Emmanuel Leclercq: Die Definition, die ich von einem Priester geben würde: Er ist der, der Christus in sich trägt, um ihn zu den Menschen zu bringen. Er ist der, der Christus liebt, damit dieser von den Menschen geliebt wird. Wir brauchen heilige Priester und ich bitte Mutter Teresa und Johannes Paul II. regelmäßig, dass ich meiner Berufung treu bleibe, dass ich heilig werde und dass ich mich Christus annähere – Tag für Tag.
Frage: Was können wir heute – als Christen und als Kirche – von Mutter Teresa lernen?
Emmanuel Leclercq: Zwei Dinge würde ich gerne von Mutter Teresa in Erinnerung behalten: Den Frieden und die Liebe zu den Menschen. Wer den Frieden in der Welt verteidigt, braucht diesen Frieden in sich selbst. In ihrer Liebe hat Mutter Teresa Babys und Alte gerettet und ihnen ihre menschliche Würde wiedergegeben. Auch mir hat sie meine Würde zurückgeschenkt. Bis zu ihrem Tod hat sie das Leben verteidigt. Ich glaube, dass wir das Leben heutzutage immer mehr beschützen und ihm dienen müssen. Denn dann dienen wir dem Frieden in unseren Herzen und in der Welt.