Oase des Katholizismus
Da ist das "Ave Maria" schon rein äußerlich eine wohltuende Ausnahme. Rot-weiß gestreifte Markisen lassen das kleine Geschäft, das sich ausgerechnet in dieser Umgebung auf den Verkauf von kirchlichen Devotionalien spezialisiert hat, besonders freundlich wirken. Bereits im Schaufenster tummeln sich Marienfiguren in allen Erscheinungsformen. Sobald man die Türschwelle zum "Ave Maria" übertritt und sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hat, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Überfordert von den vielen Eindrücken, weiß man nicht genau, wohin man zuerst schauen soll. Direkt neben dem Eingang steht ein grünes Becken mit Weihwasser. Dahinter findet sich ein Verkaufstresen mit Schalen voller Münzen, Steine und Kettchen, die als "kleine Begleiter für unterwegs" gedacht sind. Vor einer bemalten Wand steht eine hohe, blau-gewandete Madonnenfigur mit einem flammenden Herz. Weihrauch, Kerzen, Bücher, Bildchen soweit das Auge reicht. Der Satz einer Kundin "Hier findet jeder etwas" scheint der Wahrheit zu entsprechen.
Erst der Glaube, dann das Geschäft
In diesem Sammelsurium ist Rachele Cutulo heute ganz in ihrem Element. Dass man es hier nicht mit einer x-beliebigen Verkäuferin zu tun hat, wird schnell deutlich. Die gebürtige Italienerin kam bereits als Kind einer Gastarbeiterfamilie nach Deutschland. Eine Tatsache, die ihrem italienischen Temperament nicht geschadet hat. "Nein, das Lederband verkaufe ich Ihnen nicht. Der Junge könnte sich beim Spielen verletzten", sagt sie einem Vater, der gerade einen Anhänger mitsamt Kette für seinen Zögling erwerben will. Was für jeden Kaufmann den Ruin seines Geschäfts bedeuten würde, hat bei Rachele Cutolo oberste Priorität: "In erster Linie steht der Glaube und nicht der Verkauf".
Als ihr Mann vor einigen Jahren lebensgefährlich erkrankte, entschied sich die heute 49-Jährige kürzer zu treten. Sie gab ihren Delikatessenstand in einer Moabiter Markthalle auf und half zunächst in dem Restaurant aus, das direkt neben dem "Ave Maria" liegt. Sowohl die Gaststätte als auch der Devotionalienladen gehören den gleichen Besitzern. Rachele Cutolo ist seit Jahren mit ihnen befreundet. Dass ihr Mann die Krankheit überlebte und "ein zweites Leben geschenkt bekam", wie sie sagt, stärkte ihren Glauben und den Wunsch, etwas zurückzugeben.
Da kam es gerade recht, als sie zum achtjährigen Jubiläum des Devotionalienladens im Jahr 2004 gebeten wurde, das Lädchen auf Vordermann zu bringen. Gesagt. Getan. "Ich schmiss alles raus, was hier nicht reingehört", erinnert sich die couragierte Frau. Die Plastikblumen zum Beispiel. Und natürlich entfernte sie die "Spinnenweben an der Mutter Gottes - das geht für eine gläubige Katholikin gar nicht", sagt sie. Einen Monat lang schuftete sie Tag und Nacht und schuf aus dem anfänglich etwas halbherzig betriebenen Second-Hand-Laden eine Oase des Katholizismus. Mit dem einst augenzwinkernden Umgang der Besitzer mit dem "Ave Maria" machte Cutulo kurzerhand Schluss. Sie legt sehr viel Wert darauf, dass die viel bemühte Berliner Toleranz auch ihr und ihren Glaubensüberzeugungen entgegengebracht wird.
Die persönliche Begegnung gehört im "Ave Maria" dazu
Die Menschen stören sich nicht an der bestimmten Art der Italienerin, im Gegenteil. Von überall kommen sie her, um Kerzen oder Weihrauch zu kaufen. "Das 'Ave Maria' ist die Nummer Eins in Berlin. Ich wüsste nicht, wo ich in Berlin sonst solche Dinge einkaufen könnte", sagt eine Kundin.
"Was meinen Sie, was ich hier alles erlebe", sagt Rachele Cutulo. Die Begegnung gehört im "Ave Maria" unbedingt dazu. Da trifft der Ordensmann, der eine Madonna für seine Glaubensgemeinschaft sucht, auf eine ehemalige Buddhistin und heutige Katholikin. Eine Kundin hat einen ganz profanen Grund aus dem breiten Weihrauchangebot zu wählen: sie mag den Geruch des Harzes in der Wohnung. Und auch dieser Kundin gibt die Verkäuferin ein paar Worte und ein Geschenk mit auf den Weg, nachdem sie den hochwertigen Weihrauch aus dem Oman erworben hat.
Die Qualität der Ware ist der Neapolitanerin sehr wichtig. Vieles bezieht sie direkt aus Italien und immer denkt sie an die Wünsche ihrer Kunden. Sie behauptet sogar, dass sie bereits beim Eintreten des Kunden in den Laden spürt, was er braucht. Eins ist auf jeden Fall sicher, die Menschen kommen und suchen Ruhe - beim Stöbern und auch sonst. Da passen die entspannenden gregorianischen Gesänge vom CD-Spieler gut ins Bild.
Zuhälter und Prostituierte als Kunden
Bulgarische Zuhälter seien schon hier gewesen und Prostituierte kämen auch, erzählt Cutulo. "Jeder hat seinen Grund, ich maße mir nicht an zu richten", sagt sie. Manchmal jedoch, ist das große Herz der Italienerin nicht mehr so groß - dann wird sie bestimmt. Als eines Tages ein gut gekleideter Herr ein recht teures Kreuz in seiner Tasche verschwinden lassen wollte, entging das der umtriebigen Verkäuferin nicht: "Ich verzeih Ihnen alles, aber geben sie das Kreuz wieder her und jetzt raus".
Von einem gewinnbringenden Geschäft, zumindest in finanzieller Hinsicht, kann man beim "Ave Maria" sicher nicht sprechen. Aber die Menschlichkeit und Authentizität, die in dem kleinen Lädchen mit den rot-weiß-gestreiften Markisen transportiert wird, ist ein überraschendes Geschenk - im großen, manchmal doch nicht ganz so säkularen Berlin.
Von Constanze Broelemann