"95 Prozent halten sich nicht lebenslang an den Zölibat"

Therapeut: Fast alle Priester haben Probleme mit Enthaltsamkeit

Veröffentlicht am 05.06.2019 um 09:48 Uhr – Lesedauer: 

Berlin ‐ Manche hätten Affären oder im Urlaub Sex und lebten dann wieder lange Zeit enthaltsam – andere führten konsequent ein Doppelleben: Der Berliner Therapeut Joachim Reich betreut Priester – und schätzt, dass sich 95 Prozent nicht an den Zölibat halten.

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Nach Einschätzung des Berliner Therapeuten Joachim Reich haben fast alle katholischen Priester Probleme mit sexueller Enthaltsamkeit. "Ich würde sagen: 95 Prozent halten sich nicht lebenslang an den Zölibat", sagte Reich im Interview der "Welt" (Mittwoch). "Zu welchem Grad und in welchen Phasen sie sexuell aktiv sind, ist aber unterschiedlich." Manche hätten Affären oder im Urlaub Sex und lebten dann wieder lange Zeit enthaltsam. "Andere führen konsequent ein Doppelleben."

Viele Priester seien "mit viel Idealismus" in ihr Amt gestartet, sagte Reich, der Priester berät. Dass sie Probleme mit dem Zölibat bekämen, dauere mitunter mehrere Jahre. Wer keine Beeinträchtigung erfahre, sei "zölibatär hochbegabt". Das sei eine "ganz kleine" Minderheit. Die Mehrheit werde oft allein gelassen: Beichtväter seien für solche Fragestellungen nicht ausgebildet, geistlichen Begleitern fehle "jeder sexualpsychologische Hintergrund". Seminaristen klagten über fehlende oder nicht ernsthafte Vorbereitung auf den Zölibat.

"Die Kirche lässt diese Menschen letztlich im Stich"

Probleme mit der verpflichtenden Ehelosigkeit würden individualisiert: "Die Kirche lässt diese Menschen letztlich im Stich", kritisierte Reich. Aber: "Ein Mensch hört nicht auf, ein sexuelles Wesen zu sein, nur weil er Priester wird." Auf die Frage, wie er zu Forderungen nach Abschaffung des Zölibats stehe, sagte Reich: "Jede Kirche hat das Recht, Dinge für sich zu regeln. Aus therapeutischer und theologischer Sicht bin ich aber dafür, den Pflichtzölibat aufzuheben."

Das wäre aber nicht die Lösung aller Probleme, so Reich, denn die Kirche kenne die Ehescheidung nicht. "Die Kirche hat ja genug ungelöste Schwierigkeiten mit geschiedenen, wiederverheirateten Laien; das würde sich mit Klerikern nur noch verschärfen."

Der Zölibat ist die Pflicht zur Ehelosigkeit für katholische Priester. Auch im Zuge des Missbrauchsskandals in der Kirche stand er in der jüngeren Vergangenheit wieder verstärkt zur Diskussion. Mehrere deutsche Bischöfe nahmen zu dem Thema Stellung. Anfang Mai hatte der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode eine neue Diskussion über den Zölibat angeregt. Im Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung" sagte er: "Meiner Meinung nach müssen wir die Verbindung von Zölibat und Priestertum bedenken." Er könne sich auch Priester mit Familie und Zivilberuf vorstellen – "ähnlich wie unsere Diakone, von denen einige verheiratet und berufstätig sind", so Bode. Dennoch habe der Zölibat einen "hohen, angemessenen Wert", den er auch behalten solle. (tmg/KNA)