Wo Ehrenamtliche die Kirchengemeinde leiten
Am Anfang stand ein Scherbenhaufen: Im Duisburger Stadtteil Röttgersbach sollte die Gemeinde um die St.-Barbara-Kirche 2011 aufgelöst und das Gotteshaus geschlossen werden, die Gläubigen sollten sich andere Kirchen in der Pfarrei suchen. Auch auf der Margarethenhöhe in Essen gab es ein Problem: Vor zweieinhalb verstarb Jahren plötzlich die Gemeindereferentin, die der Gemeinde zur Hl. Familie vorgestanden hatte. Auf einmal standen beide Orte vor einer mehr als ungewissen Zukunft – und fanden die gleiche Lösung: Dort leiten jetzt Ehrenamtler die Gemeinde, in Duisburg schon seit drei Jahren, in Essen erst seit Ende März.
In Duisburg war die Situation besonders dramatisch: Die zuständige Pfarrei hatte die Barbara-Gemeinde lange aufgegeben, das Bistum die Aufgabe der Kirche schon beschlossen. Doch der Protest der Gläubigen vor Ort wendete schließlich das Blatt – unter harten Bedingungen: Die Gemeinde darf zwar Kirche und Pfarrhaus per Vertrag zum Nulltarif weiternutzen und zur Sonntagsmesse kommt aus der Pfarrei ein Priester, aber von der Gebühr für die Müllabfuhr bis zum Messwein muss die Gemeinde alle Kosten selbst stemmen – ohne einen einzigen Cent aus der Kirchensteuer. Dafür übernehmen die Ehrenamtler umfassend Verantwortung, etwa die Verkehrssicherungspflicht. Inhaltlich entwickelten die Duisburger ein Modell aus fünf Säulen: Es gibt einen Förderverein, der sich um die Finanzen kümmert, daneben vier Arbeitskreise für Kultur und Festivitäten, Kinder- und Jugendarbeit, Karitatives sowie Liturgie. Die Sprecher aller Gremien treffen sich einmal im Monat am "Runden Tisch", an dem die grundsätzlichen Entscheidungen getroffen werden.
Ganz so extrem ist die Lage in Essen nicht: Die Gemeinde zur Hl. Familie ist noch regulärer Teil der Pfarrei und bekommt von dort auch finanzielle Mittel aus den Kirchensteuereinnahmen. Sie verwaltet sich aber im Alltag vollkommen selbst, auch hier gibt es unterschiedliche Arbeitskreise.
Eigenen Interessen nachgehen
Diese thematische Aufteilung der Arbeit hat ihren Grund: Die Ehrenamtler sollen ihren Interessen und Neigungen folgen können. Das soll gewährleisten, dass sie der Gemeinde möglichst langfristig erhalten bleiben. Denn Mitgliedergewinnung ist, wie in vielen anderen Vereinen, auch in Duisburg eine wichtige Aufgabe geworden: "Jeder Einzelne ist wichtig, damit das Projekt eine dauerhafte Zukunft hat", sagt Fördervereinsvorsitzender Martin Linne. "Wenn man die Leute nicht mit offenen Armen aufnimmt, ist die Frage, ob die nach dem zweiten Mal nochmal wiederkommen." Bisher läuft es ganz gut, erzählt er. Aus der Zusammenarbeit mit dem nahen Kindergarten kommen immer wieder junge Eltern mit der Gemeinde in Kontakt und engagieren sich. Der Erfolg des Duisburger Modells: Wer mitmacht, bekommt eine Aufgabe. So wird die Bedeutung des individuellen Einsatzes für jeden schnell erkennbar.
Dass Gemeinden sich selbst verwalten, passiert nicht von heute auf morgen: In Duisburg und Essen gab es einen langen Vorbereitungsprozess. So wurden in Essen erst einmal Interessierte gesucht und nach ihren Visionen für Kirche und Gemeinde gefragt. Darauf aufbauend entwickelten sie eine Struktur. Dieses gemeinsame Projekt der Gläubigen hat in beiden Gemeinden zu mehr Zusammenhalt geführt: Ob Junge oder Ältere, Traditionelle oder Progressive – sie verstehen sich nun stärker als früher als Gemeinschaft, die den Glauben leben will. Dadurch ist der Respekt untereinander gewachsen – auch vor der bisherigen Arbeitsleistung der Hauptamtlichen. Denn Gebäude in Stand zu halten und möglichst mit Gewinn zu vermieten, ist keine Kleinigkeit. In Duisburg hatte die Gemeinde das Glück, den langjährigen Angestellten einer Wohnungsbaugesellschaft und damit einen Fachmann an Bord zu haben. Ohne Menschen wie ihn wäre die Gemeindeleitung eine beinahe unlösbare Aufgabe gewesen.
Mehr Verantwortung – mehr Freiheit
Mit der größeren Verantwortung kommt aber auch eine größere Freiheit: Ob eine Idee verwirklicht wird, entscheidet nicht mehr "ein" Pfarrer, sondern es geht nach der Umsetzbarkeit. Wenn sich Freiwillige finden, wird das Projekt angegangen. So gab es in Duisburg erstmals einen Bikergottesdienst und die Zahl der Veranstaltungen rund um die Kirche ist deutlich gestiegen. Ebenso sei das persönliche Engagement an beiden Orten gewachsen – auch Menschen, die sich vorher nicht engagiert hätten, seien jetzt mit an Bord. In Essen ist den Ehrenamtlern wichtig, dass Spiritualität und Gemeinschaft zusammengedacht werden, deshalb ist der anschließende Frühschoppen mit Wurst und Bier selbstverständlicher Teil der jährlichen Fronleichnamsprozession. Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Was nicht angenommen wird oder nicht leistbar ist, findet nicht statt. In Duisburg gab es anfangs jeden Samstagabend einen Wortgottesdienst. Der wurde aber von immer weniger Menschen besucht. Zu wenige für die viele Arbeit, die dahinter steckte – die regelmäßigen Gottesdienste fallen ab 2019 bis auf den ersten Samstag im Monat mit Gastpriestern weg, die Freiwilligen bringen sich jetzt bei der Vorbereitung der Sonntagsmessen ein. Dafür gibt es an jedem dritten Samstag nun einen Taizé-Gottesdienst. In Essen war die Senioren- und Jugendarbeit das Steckenpferd der verstorbenen Gemeindereferentin. Diese Lücke konnte bisher noch nicht vollständig gefüllt werden. Dafür übernimmt mittlerweile eine Ehrenamtliche die Gottesdienste im nahen Altenheim, um so die Hauptamtlichen zu entlasten.
Die Zusammenarbeit mit den Hauptamtlichen aus Pfarrei und Bistum beschreiben Vertreter beider Gemeinden als gut, aber im Bereich Vertrauen und Akzeptanz noch ausbaufähig: Nachdem es anfangs Vorbehalte und Befremden gegeben hätte, käme von dort mittlerweile viel Unterstützung. Das haben die Gemeindeleitungen durch zahlreiche Gespräche erreicht, in Essen nehmen sie alle 14 Tage auch an der Sitzung der Seelsorger teil. Durch Kommunikationsoffensiven wollen sie Befürchtungen anderer Gemeinden in ihren Pfarreien ausräumen, die neuen Gemeindemodelle würden vom Bistum bevorzugt, weil sie weniger Geld kosteten. Das sei nicht der Fall, heißt es.
Die Zukunft bleibt eine Herausforderung
Auf beide Gemeinden warten noch große Aufgaben: In Essen arbeiten die Ehrenamtlichen daran, einen "normalen" Gemeindealltag mit den dazugehörigen Angeboten zu gestalten. Gleichzeitig haben sich einige Engagierte schon für Kurse angemeldet, um Lektoren und Kommunionhelfer zu werden oder Gottesdienste und Beerdigungen zu gestalten – und damit die Seelsorge vor Ort zu stärken. In Duisburg ist der Gemeindealltag schon etabliert: Die bisher parallel zur restlichen Kirchenverfasstheit als Projekt laufende St.-Barbara-Gemeinde ist seit Jahresbeginn wieder integraler Bestandteil der örtlichen Pfarrei. An St. Barbara geht es auch um Zahlen: 50.000 Euro braucht die Gemeinde jedes Jahr, das Geld kommt aus Mitgliedsbeiträgen des Fördervereins, Mieterträgen und Spenden. Momentan ist genug Geld da, sogar das Budget für das kommende Jahr steht schon. Doch hier wie auch in Essen wird schon darüber nachgedacht, wo neue Geldquellen liegen – und gespart werden kann. Denn darum kreisen die Reformprozesse im Bistum Essen, in denen die Einrichtung der Leitungsteams noch nicht der letzte Schritt ist. Auf der Margarethenhöhe wird bald schon ein Gebäude aufgegeben, das Pfarrbüro muss umziehen. Weitere Einsparungen können nötig werden.
Wer den ehrenamtlichen Leitungsteams zuhört, trifft auf viel Engagement und Tatendrang – die neue Freiheit schätzt man durchaus. Ist diese Leitungsform also ein Zukunftsmodell für alle Gemeinden? Da kommt aus beiden Orten ein deutliches "Ja, aber…". Dass Ehrenamtler in Zukunft mehr Verantwortung übernehmen (müssen), ist allen klar. Ebenso klar ist ihnen jedoch auch, dass es auf die Rahmenbedingungen ankommt: Beide Gemeinden sind bürgerlich geprägt. Hier gibt es sowohl das nötige Engagement wie auch Finanzaufkommen, um die Gemeinden am Leben zu halten. Andernorts wäre das nicht so einfach möglich, heißt es. Dazu kommt etwa in Duisburg, dass die Gemeinde keine baulich aufwendige oder historische Kirche besitzt, deren Erhaltungskosten schnell in Millionenhöhe steigen könnten.
Beide Gemeinden haben in mühsamer Arbeit eigene Strukturen gefunden, die vor Ort funktionieren. Eins zu eins auf andere Orte übertragen lassen sie sich dennoch nicht. Damit haben die Gläubigen in Essen und Duisburg einen Schritt getan, der anderen Kirchen noch bevorsteht: Sich bewusst machen, wohin man eigentlich will, was leistbar und gewollt ist – und welches Gesicht der Glaube der Gegenwart und Zukunft haben soll.