Immer mehr Patienten in den Niederlanden fordern aktive Sterbehilfe

Wo Sterbebilfe selbstverständlich scheint

Veröffentlicht am 03.10.2017 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Lebensschutz

Groesbeek ‐ Immer mehr Menschen mit Demenz entscheiden sich in den Niederlanden für aktive Sterbehilfe. Der Hausarzt Jaap Schuurmans setzt sich für eine würdevolle Pflege von Demenzpatienten bis zum Tod ein.

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Nur ein einziges Mal hat der niederländische Hausarzt Jaap Schuurmans (56) einer dementen Patientin die Todesspritze gesetzt. Ob er es noch einmal machen würde? Das kann er nicht sagen. "Ich bin nicht stolz darauf", betont Schuurmans in seiner Praxis in Groesbeek, einem Städtchen mit 20.000 Einwohnern nahe Nimwegen.

Seit 2002 ist aktive Sterbehilfe in den Niederlanden legal. 2016 wählten 6.091 Menschen den Tod durch die Spritze, 141 davon litten an Demenz. Die Zahl erscheint aus deutscher Perspektive recht hoch, und sie wächst seit Jahren. Schuurmans findet das bedenklich. Denn Menschen mit fortgeschrittener Demenz könnten gar nicht mehr die Entscheidung zum Sterben treffen. Auch wenn sie es vorher schriftlich erklärt hätten, könne sich der Arzt nicht sicher sein, ob der Patient seine Meinung in der Zwischenzeit nicht geändert habe, so Schuurmans. Er ist auf die Pflege von älteren Menschen spezialisiert.

Unterstützung auf dem Weg zum Lebensende

Zusammen mit 500 anderen Ärzten machte er im Februar mit einer Kampagne auf das Problem aufmerksam. Schuurmans fordert, auch andere Optionen für das Lebensende in den Blick genommen werden wie die Pflege zuhause oder im Heim. Heutzutage könnten Schmerzen gelindert werden und auch demente Menschen, die nicht einmal von Schmerzen betroffen sind, ein erträgliches, sogar glückliches Leben führen.

Der Hausarzt Jaap Schuurmans in Groesbeek.
Bild: ©Franziska Broich/KNA

Auch Jaap Schuurmans hat schon aktive Sterbehilfe geleistet. Gut fühlt er sich damit nicht. Er setzt sich dafür ein, dass Alternativen zur Sterbehilfe bekannter werden.

Der Hausarzt unterstützt seine Patienten auf dem Weg zum Lebensende. Er informiert über Pflegemöglichkeiten und hilft, nach Entlastungen für Angehörige zu suchen. An diesem Dienstagmorgen besucht er mit seinem silbernen Kleinwagen Christina Ter Baaken. Groesbeek ist ländlich. Alleen reihen sich an endlose Feldwege. Ter Baaken pflegt ihre Mutter zuhause. Schuurmans schätzt die Lebenserwartung der Mutter noch auf einen Monat, vielleicht ein bisschen mehr. Die 88-Jährige ist dement und hat Krebs. Doch sie scheint glücklich, spricht von der Akkordeonmusik, die sie liebt.

Viele andere Niederländer hätten sich in solch einer medizinisch aussichtslosen Situation für die aktive Sterbehilfe entschieden. Doch für Ter Baaken und ihre Mutter war das keine Option. "Meine Mutter wollte zuhause bleiben - bis zum Ende", sagt die 44-Jährige. Ter Baaken hat dafür ihren Job bei "Ärzte ohne Grenzen" in Turkmenistan aufgegeben, ist zurück in die Niederlande gezogen und hat den Dachboden des Hauses für sich ausgebaut.

Was macht das Leben lebenswert?

24 Stunden ist sie seitdem für ihre Mutter da. Im Wohnzimmer stehen zwei Betten. Das Krankenbett schmückt ein Kissen mit Hundeprint, ihr eigenes vier Blumenkissen. Seit einiger Zeit schläft Ter Baaken neben ihrer Mutter. An der Küchentür stehen alle Notrufnummern, auf dem Tisch liegt der Ordner mit der Patientenverfügung der Mutter. Ter Baaken ist vorbereitet. Inspiriert wurde sie durch das Buch des Hausarztes. "Wat nu" (Was nun) heißt es und beschäftigt sich mit praktischen Fragen zum Ende des Lebens.

Wenn Schuurmans spricht, erwähnt er gerne Odysseus, den Helden der griechischen Mythologie, oder den französischen Philosophen Albert Camus. Was macht das Leben lebenswert? "Für mich ist es eine der bedeutendsten Fragen in der Medizin", sagt der Hausarzt. Schuurmans legt Wert auf eine "ganzheitliche" Betrachtung der Patienten. Er nimmt sich Zeit, fragt nach den Geschichten drumherum. Der Mensch und dessen Lebenssituation liegen dem Mediziner am Herzen.

In 85 Prozent der niederländischen Sterbehilfefälle gab 2016 ein Hausarzt die Todesspritze. Es ist etwas so Persönliches, dass in der Regel der Arzt, der den Patienten am besten kennt, die finale Injektion vornimmt. Doch viele angehende Hausärzte sind überfordert mit dieser Situation. Ihnen fehlt die Erfahrung im Umgang mit Patienten, die aktive Sterbehilfe wollen.

Angehörige erhöhen den Druck

So war es auch bei Lot Sivre (26). Die angehende Ärztin arbeitet im ersten Assistenzjahr bei Schuurmans in der Praxis. Im Studium lernte sie, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit aktive Sterbehilfe legal ist: Das Leiden muss "unerträglich" sein und der Patient ohne Lebensperspektive. Doch so klar wie im Studium sei es in der Realität oft nicht. Vergangenes Jahr fragte ein älterer Krebspatient aktive Sterbehilfe bei ihr an. Sie zögerte. Denn der Patient schien glücklich und litt nicht unter Schmerzen. Die Angehörigen erhöhten den Druck. "Ich war froh, dass ich in dieser Situation Jaap an meiner Seite hatte", sagt sie. Für sie war es eine schwierige Situation. Das Wissen über die Verwendung der Todesspritze half ihr nicht weiter.

Nach einem Gespräch entschieden sich Patient und Familie gegen aktive Sterbehilfe. Ein Erfolg? Diesen Begriff findet Schuurmans nicht angemessen, aber gefreut habe er sich schon, sagt er leise.

Andere Optionen sind nicht im Blick

Schuurmans fordert beim Umgang mit aktiver Sterbehilfe mehr Unterstützung für die jungen Hausärzte. Sie arbeiteten meist alleine und hätten nur selten Gelegenheit, sich über ihre Fälle auszutauschen. Von der Regierung erhielten sie kaum Aufmerksamkeit, obwohl sie für die Patienten die ersten Ansprechpartner bei aktiver Sterbehilfe seien, kritisiert er. Dazu komme, dass Sterbehilfe so präsent in den Medien sei, dass viele Patienten gar keine anderen Optionen wie etwa eine würdige Pflege mehr in Betracht zögen. "Auch demente Patienten können ein schönes Lebensende haben", sagt er. Der vorzeitige Tod sei nicht die einzige Lösung. Mittlerweile gebe es viele medizinische Wege, um Menschen einen würdigen natürlichen Lebensabschied zu ermöglichen.

Das Wort Palliativmedizin lehnt Schuurmans jedoch ab. Die Menschen würden es zu sehr mit einem "schmerzhaften Tod" verbinden. Deshalb spricht er lieber von einer "komplexen Pflege" und meint damit nicht nur im Heim, sondern auch Zuhause, durch mobile Pflegedienste oder eine Tagespflege. Die Region, in der Schuurmans arbeitet, ist Vorreiter in dem Bereich. 1993 wurde in der Nähe von Nimwegen das erste Zentrum für Palliativmedizin eröffnet.

In Schuurmans Praxis ist es an diesem Dienstag ruhig. Die roten und grünen Stühle im Wartezimmer sind kaum besetzt. Bunte Vögel aus Papier ziehen langsam ihre Kreise über dem Empfang. Die Fensterbänke und Regale schmücken Fossilien, Steine mit Muschelabdruck oder Knochen. In seiner Freizeit fertigt Schuurmans gerne Skulpturen aus Stein an. "Es sind die monumentalen Dinge im Leben, die ich mag", sagt Schuurmans und lacht, "Ich beschäftige mich immerzu mit dem Tod oder dem Leben."

Von Franziska Broich (KNA)

Themenseite: Ethik am Lebensende

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