Zwei Deutsche sind Bischof und Pfarrer in Russland

Seelsorger, Sozialarbeiter und Vater-Ersatz

Veröffentlicht am 23.10.2016 um 14:00 Uhr – Lesedauer: 
Weltkirche

Saratow ‐ Hunderte Kilometer Trennen ihre Gemeinden: In den Weiten Russlands engagieren sich Bischof Clemens Pickel und Pfarrer Bosco Marschner als Seelsorger. Doch nicht nur die Entfernung ist herausfordernd.

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Wenn Bosco Marschner samstags pünktlich um 16 Uhr zur Messe in Pensa sein will, muss der Pfarrer zeitig aufbrechen. Die 500.000-Einwohner-Stadt ist rund 300 Kilometer von seiner Kirchengemeinde in Marx an der Wolga entfernt. Auch wenn dort nur etwa 20 Christen zum Gottesdienst kommen, ihren Priester brauchen sie.

Ihre 1906 errichtete katholische Kirche schlossen die Stalinisten 45 Jahre später und bauten sie in eine Bank um. 1953 wurde die Gemeinde verboten, wie die 75-jährige Sofia erzählt. Ihren Vater wollte das Regime während des Zweiten Weltkrieges gar erschießen. Katholiken wie er galten als Verbündete der Polen und der deutschen Faschisten. Nur ein mitleidiger Genosse konnte den zuständigen Offizier umstimmen.

„Für die Orthodoxen sind wir noch immer Feind Nummer eins.“

—  Zitat: Gemeindemitglied

1997 gründete Sofia gemeinsam mit einer Handvoll Bekannter eine neue Gemeinde. Zwei Jahre später kauften sie einen leerstehenden Laden und bauten ihn zu ihrem Kirchlein mit 25 Plätzen aus. "Für die Orthodoxen sind wir noch immer Feind Nummer eins", meint ein junger Mann aus der Gemeinde. Wer als Russe nicht orthodox ist, gilt oft als Abtrünniger. Nicht selten, berichten andere, bekommen sie zu hören: "Ihr seid katholisch - wir sind Christen." Seine Pfarrei in Marx, einer 30.000-Einwohner-Stadt im früheren Siedlungsgebiet der Wolgadeutschen, leitet Marschner seit eineinhalb Jahren. Inzwischen spricht er fließend Russisch. Zuvor war der gebürtige Bautzener Pfarrer in Zittau. "Hier bin ich mehr Sozialarbeiter als Seelsorger", berichtet der 49-Jährige. 

Selbstwertgefühl und Selbstständigkeit

Auf dem Gelände der um 1993 errichteten Backstein-Kirche von Marx unterhält die Caritas einen Treff. Dort helfen Ordensschwestern Schülern bei den Hausaufgaben, spielen mit ihnen, kochen. Sie wollen Mädchen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren, die in einem Internat auf dem Gemeindegelände leben, Selbstwertgefühl vermitteln und ihre Selbstständigkeit fördern. Die Mädchen stammen aus weit verstreuten Dörfern. Eines von ihnen hat Alkoholiker als Eltern. Hier hat sie eher Aussichten auf eine Berufsausbildung, vielleicht sogar ein Studium, so Marschner. Vier hauptamtliche und acht ehrenamtliche Mitarbeiter der Pfarrei besuchen zudem ältere Pflegebedürftige in der Region. Sie leihen Rollstühle, Pflegebetten oder Rollatoren aus und schulen Angehörige.

Linktipp: Erhöhter Druck auf Religionsgemeinschaften

Die Nichtregierungsorganisationen waren zuerst dran, nun trifft es die Glaubensgemeinschaften: Das russische Parlament will ihre Geldquellen genau unter die Lupe nehmen. Kritiker sehen Kirchen, die Spenden aus dem Ausland erhalten, unter Generalverdacht. (Artikel von 2015)

Ambulante Pflege ist in Russland eine Ausnahmeerscheinung. "Unsere Caritas bildet darin auch staatliche Krankenpfleger aus", berichtet Clemens Pickel. Der gebürtige Colditzer lebt seit 26 Jahren in Russland. Zunächst engagierte er sich als Gemeindepfarrer, jetzt ist der 55-Jährige Bischof von Saratow. Einst war die Stadt mit heute 840.000 Einwohnern das Zentrum der im 18. Jahrhundert eingewanderten Wolgadeutschen. Sein Bistum Sankt Clemens umfasst 47 Pfarreien mit 26 Kirchen - auf einem Gebiet viermal so groß wie Deutschland. Zwar sind die meisten Russlanddeutschen in den vergangenen Jahrzehnten in die Bundesrepublik übergesiedelt, doch an ihrer Stelle haben die Kirchengemeinden neue Mitglieder. Die Gottesdienste werden nun auf Russisch gehalten.

Sie werden mit "Vater" angesprochen

"Unsere Gemeinden sind sehr klein", berichtet Pickel. Die Katholiken bilden eine Minderheit von gerade mal 0,08 Prozent der Bevölkerung. "Wie Familien, versammelt um einen Priester." Pickel und die anderen Geistlichen werden als "Vater" angesprochen. Es ist keine bloße Ehrenbezeichnung. Oft müssen die Seelsorger so weit es geht den Familienvater ersetzen, wenn der im fernen Moskau arbeitet, dem Alkohol verfallen ist oder sich die Eltern getrennt haben, so der Bischof.

Die Priester und Ordensleute im Bistum Sankt Clemens kommen aus 21 Ländern. Sie müssen die Mentalität ihrer Gemeindemitglieder akzeptieren lernen, wie Pickel betont. Das ist nicht immer einfach angesichts einer verbreiteten Autoritätsgläubigkeit in Russland. "Hier lassen sich die Leute gern von einer starken Hand führen", erklärt der Bischof. Die Kunst besteht nach seiner Erfahrung darin, sie in ihrem Denken abzuholen und gleichzeitig das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, sie zu einem selbstbestimmten Leben zu befähigen: "Wir wollen, dass sie von sich aus glauben lernen."

Von Tomas Gärtner (KNA)