In Deutschland wächst die Angst vor Demenz

Der erste Tod

Veröffentlicht am 03.12.2013 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Gesellschaft

Bonn ‐ Es ist wie ein erster langsamer Tod. "Ich sterbe zweimal", sagt die 75-jährige Charlotte, deren Geist sich im Film "Stiller Abschied" immer mehr ihrer Alzheimerkrankheit ergibt: "Einmal als der Mensch, der ich war und ein zweites Mal, als der Mensch, den die Krankheit aus mir gemacht hat." Ein Schicksal, das in Deutschland rund 1,3 Millionen Menschen und ihre Angehörigen betrifft. Ein Schicksal, das Angst macht.

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Während die Sorge vor Krebs, einem Unfall oder einem Herzinfarkt langsam zurückgeht, steigt die Angst der Deutschen vor Alzheimer und Demenz. Das hat eine kürzlich veröffentlichte Gesundheitsstudie der Krankenkasse DAK ergeben. Vor allem Menschen über 60 nähmen die Erkrankung als starke Bedrohung war. Der Theologe und Psychotherapeut Wunibald Müller beschreibt das Szenario als Schattenseite des medizinischen Fortschritts: "Dass wir länger leben können, ist oft daran gekoppelt, dass die Qualität der letzten Jahre unsere Lebens mitunter erheblich beschnitten ist."

Offener Dialog nimmt Ängste

Diese Aussicht mache natürlich Angst, so Müller. Wohl auch, weil das Thema in der Gesellschaft immer präsenter wird. Filme, Dokumentationen, Talkshows und politische Diskussionen greifen es auf, Prominente und ihre Angehörigen machen die Krankheit zu Thema. Etwa in der Talkshow "Hart aber fair", die im Oktober gleich zwei Folgen der Demenz widmete.

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Unter den Gästen war auch Ministerin Ursula von der Leyen, die offen und emotional über die Alzheimerkrankheit ihres Vaters sprach. Über ihr Entsetzen und ihre Angst, als sie die Diagnose erfuhr. Über ihre tiefe Traurigkeit, als ihrem Vater der liebevolle Spitzname "Röschen" für die Tochter verloren ging. Aber auch über die Momente des kleinen Glücks, wenn er ihr in seiner neuen kindlichen Freude die Augen für die einfachen Dinge öffnet.

Wunibald Müller befürwortet den neuen Redebedarf in Sachen Demenz: "Nur wenn der Mensch sich seinen Ängsten stelle, könne er die Fragen, die an ihn herangetragen werden, auch positiv beantworten." Es gehe darum, sich für den Fall der Fälle vorzubereiten, und zu klären, was mit einem passiert und wie die Umgebung dann auf einen reagieren soll. "Es geht auch darum, sich selbst klarzumachen, dass man nicht nur aus seiner Krankheit besteht, sondern dass es immer Dinge gibt, die das Leben trotzdem lebenswert machen", sagt Müller. Blieben diese Fragen ungeklärt, seien Krankheit und Tod ein Blackbox, die noch mehr Angst mache.

Völlig neue Menschen

Dass Demenz das Erinnerungsvermögen auslöscht, ist bekannter, als die Tatsache, dass sie auch die Persönlichkeit verändert. Betroffene verlieren zunehmend die Kontrolle über ihre Gefühle und äußern ihre Emotionen viel direkter. Sei es nun Freude, Stress, Traurigkeit oder auch Aggression.

Weiße Kuscheltierrobbe
Bild: ©Altenpflegemesse.de

Die Kuschelrobbe verbirgt ein Computersystem im Inneren, das eine Reaktion auf Licht, Stimmen und Berührungen ermöglicht. Sie wird in Altenheimen begleitend eingesetzt und antwortet auf die Zuwendung und Berührung der Bewohner.

Malte Sieveking, der seine Frau Gretel bis zu ihrem Tod betreute, berichtet in Frank Plasbergs Talk-Sendung von diesen Veränderungen. Er müsse seine Frau als völlig neuen Menschen begreifen, habe eine Pflegerin ihm gesagt. Als er es schafft, diese Tatsache zu akzeptieren, verliebt er sich neu in sie. Die Beziehung gewinnt den letzten Jahren eine Innigkeit, die sie vorher nie gehabt hatte. Der Sohn, Regisseur David Sieveking, hat seine Eltern in dieser Lebensphase mit der Kamera begleitet. Entstanden ist dabei die einfühlsame Dokumentation "Vergiss mein nicht".

So bewegend diese Geschichte, so schön einzelne Momente sein mögen, die Realität dieser Krankheit ist hart. Für die Menschen, die sich unaufhaltsam von ihrem eigenen Leben und den Menschen, die ihnen nahe sind, entfernen. Aber auch für die Angehörigen, die den unberechenbaren, belastenden Alltag bewältigen und mit den Reaktionen aus dem Umfeld klarkommen müssen. Viele Familien ziehen sich aus Scham und Unsicherheit zurück, obwohl sie auf Hilfe angewiesen sind.

Es sei nicht so, dass der Mensch physisch stirbt, aber diese Welt, in der man miteinander lebte, "die kann man nicht mehr zurückholen", erklärte der Psychotherapeut Müller. Angehörige bräuchten daher zum Teil eine völlig neue Form der Trauerbegleitung.

Aus dem gleichen Grund versuchen Betroffene ihre Erkrankung aber auch lange zu verdrängen. Dabei rufen Experten immer wieder zu einer frühzeitigen Behandlung auf. Ein rechtzeitiger Beginn der Therapie könnte den Verlauf der Krankheit positiv beeinflussen, informiert etwa die Deutsche Alzheimer Gesellschaft. Vorbeugung und schnelle Maßnahmen sind auch deshalb wichtig, weil die langen und intensiven Pflegezeiten Alzheimer zu einer der teuersten Krankheiten im Gesundheitssystem machen.

Neue Ansätze in der Pflege

Sozialverbände wie die Caritas drängen deshalb darauf, den Begriff der Pflegebedürftigkeit zu ändern, um die Versorgung der Betroffenen besser zu gewährleisten. Bisher umfasst dieser nur körperliche Beeinträchtigungen und wird damit den demenzkranken Menschen nicht gerecht. Damit sei es allerdings nicht getan, mahnt Reimer Gronemeyer, Vorsitzender des Vereins „Aktion Demenz“ . Er befürchtet eine Entmenschlichung der Pflege.

Wie wichtig eine vertraute Umgebung und die persönliche Ansprache sind, zeigt sich, wenn man Demenzkranke im Umgang mit Kindern oder mit Therapiehunden sieht. Sie schaffen das, was den Angehörigen im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit oft versagt bleibt: den Eingang zu finden in die Welt nach dem "ersten Tod".

Von Janina Mogendorf und Michael Richmann (Mit Material von KNA und dpa)