Leuchttürme ohne Muff
Sind Kirchen vom Aussterben bedroht? Haben Kirchtürme die längste Zeit Landmarken gesetzt? Wer die vielen Geschichten von Kirchenschließungen und Entweihungen liest, von der Umwandlung sakraler Gebäude in Wohnhäuser und Restaurants, kann zu diesem Ergebnis kommen. In der Tat sind laut der Deutschen Bischofskonferenz seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts 366 katholische Kirchen profaniert worden. 366 von heute 24.189. Andererseits wurden seit 1995 auch 72 katholische Gotteshäuser neu gebaut, darunter herausragende Beispiele moderner Architektur. Ein Widerspruch? Nein, zwei Seiten derselben Medaille, sagen Kirchenbauexperten.
Die Zeichen in den deutschen Bistümern stehen auf Wandel. Strukturreformen sind die Antwort auf schrumpfende Gemeinden und personellen Notstand. Pfarreien werden zusammengelegt, große Seelsorgeeinheiten gebildet, Pfarrer fahren im Außendienst Kilometer um Kilometer. Zugleich stehen viele Kirchen leer oder werden nur noch unzureichend genutzt. Die Dichte der in den Nachkriegsjahren schnell hochgezogenen Kirchenbauten passt nicht mehr zum heutigen Bedarf. Bei vielen sind die Sanierungsanforderungen so groß, dass es nicht lohnt, sie zu erhalten. Andere Kirchenstandorte dagegen müssen für zusammengelegte größere Gemeinden fit gemacht werden.
"Viele Gemeinden haben resigniert"
So entstehen neue Bauaufgaben, die Sanierungen, Anbauten und Umbauten, durchaus aber auch Neubauten erfordern. "Die Bausubstanz der 1950er- und 1960er-Jahre bedarf heute in Deutschland fast flächendeckend einer dringenden Umgestaltung", sagt der Kölner Architekt und Kirchenbauer Ulrich Königs. Die Gebäude entsprächen energetisch, funktional und auch liturgisch nicht mehr den Anforderungen. Viele sind vor dem Konzil entstanden und wurden nie an die veränderten Vorgaben aus Rom angepasst. "Schon damals hätte man erkennen können, wie sich die Mitgliederzahlen langfristig entwickeln, aber es wurde vielerorts nicht entsprechend vorausschauend geplant. So ist das Kirchensterben teilweise auch nur ein Zurückgehen auf ein gesundes Maß."
Trotzdem ist es für jede betroffene Gemeinde ein schmerzvoller Prozess, wie Norbert Kesseler immer wieder erlebt. "Viele Gemeinden haben resigniert. Wir haben sie in den letzten Jahren finanziell sehr eingeschränkt und durch Fusionierungen sind viele lokale Bindungen verloren gegangen", so der Diözesan- und Dombaumeister im Bistum Hildesheim. So notwendig die Umstrukturierung auch sei, was den Umgang mit Kirchengebäuden angehe, sei es ein Irrweg. "Diese Rückzugsmentalität des Schließens und Abreißens führt zu starken Erosionen. Wenn man aber ein neues Projekt initiiert und startet, sieht man schnell, wie viele Energien man plötzlich aktivieren kann."
So geschehen in der Heilig-Kreuz-Gemeinde in Altwarmbüchen bei Hannover. Hier ist am Sonntag eine neue Kirche geweiht worden. Für das Bistum Hildesheim eine Sensation, ist es doch die erste seit 40 Jahren. Die Vorgeschichte reicht lange zurück und erzählt von einer heruntergekommenen Kirche der sechziger Jahre, die einst in Fertigbauweise errichtet worden war und auf einem riesigen Grundstück stand. An jener Liegenschaft hatte die Stadt schon seit Langem Interesse, weil sie ihren Innenstadtbereich mit Geschäften erweitern wollte. "Und dann kam schon recht früh die Idee auf, das Geld aus dem Verkaufserlös des Grundstücks für einen Kirchenneubau zu verwenden", erzählt Kesseler.
Schließlich wurde das Grundstück tatsächlich veräußert und das Geld lag bereit. "Und dann kam die Frage auf, wie man heute eine Kirche neubaut", erzählt Kesseler. "Ich habe immer gesagt, es darf nach allem aussehen nur nicht nach einer klassischen katholischen Kirche, dann kommt nämlich keiner hin." Die Menschen hätten heute Schwellenängste und sähen in der katholischen Kirche immer den Muff von 2.000 Jahren. Demnach musste der Neubau also einen offeneren Charme haben und mehr anbieten, als einen klassischen Gemeindegottesdienst.
Das Alte loslassen und Ängste in Hoffnung wandeln
"Normalerweise schreiben Bauherren ein neues Bauprojekt an mehrere Architekten aus, die sich dann ihre Gedanken machen, aber das war hier völlig anders", sagt Kesseler. Von Anfang an sei es ein sehr interaktiver Prozess gewesen, in dem Kirchenvorstand, Pfarrgemeinderat und verschiedene Menschen aus der Gemeinde eine aktive Rolle spielten. "Wir haben ganz neu darüber nachgedacht, was uns wichtig wäre und seit dieser Phase hat die Gemeinde zu ihrer Lebendigkeit zurückgefunden. Viele Menschen hatten plötzlich wieder den Wunsch sich einzubringen", freut sich der Architekt und Dombaumeister.
Ein Phänomen, dass auch der Kölner Kollege Königs immer wieder erlebt. "Bei solchen Projekten halten sich Ressentiments so lange, bis das Neue sichtbar wird." Sobald die Gemeinden sähen, dass es nicht nur um Verlust gehe, sondern darum, etwas Neues zu schaffen, öffneten sie ihre Herzen und begännen, in die Zukunft zu schauen. "Erst dann können sie das Alte loslassen und Ängste in Hoffnung wandeln. Alle, die sich bisher an ihre Kirche geklammert haben, werden dann plötzlich aktiver Teil des Veränderungsprozesses."
Und diese Veränderungen können absolut zukunftsweisend sein, wie viele neue Kirchenbauprojekte zeigen. "Die Kirche wird als konservative Institution gesehen, aber architektonisch betrachtet kamen seit jeher fast alle Innovationen und Experimente aus dem Kirchenbau. Ob nun Formgebung im Barock, Konstruktion in der Gotik oder der Umgang mit Materialien, wie Glas und Beton", erklärt Königs. Die Kirche blicke wohl auf die Längste aller baugeschichtlichen Entwicklungen zurück. "Als Architekten richten wir unseren Blick auf die jahrtausendealte Tradition und suchen gleichzeitig nach völlig neuen Wegen", so der Kölner Kirchenbaufachmann.
Ein Beispiel ist die "Kirche am Meer" in Schillig an der Nordsee - die Ulrich Königs gemeinsam mit seiner Frau Ilse plante und umsetzte und die 2012 geweiht wurde. "Wenn man das Luftbild betrachtet, sieht man von oben eine klassische Kreuzform, so wie wir es von hunderten Dorfkirchen kennen", erklärt der Architekt. Der Grundriss ist also keine Neuerfindung und doch finden Fußgänger, die um das Gebäude herumgehen völlig neue und sehr abstrakte Formen, die überhaupt nicht der klassischen Kirchenbautradition zuzurechnen sind. "Die Kirche wirkt sehr futuristisch und ist ein Anziehungspunkt für Touristen."
Im Winter warm und im Sommer kühl
Nicht nur die Formgebung, auch die verwendeten Materialen sollten der Größe und Bedeutung eines Kirchenneubaus entsprechen. "Das heißt, es fällt alles weg, was unangemessen schnell verfallen würde und bald erneuert werden müsste", so Königs. Kirchen sollen nach Wunsch der Bistümer Vorbildwirkung haben und so spielen bei der Auswahl der Baustoffe Nachhaltigkeit und Ökologie eine wichtige Rolle, obwohl die Kirche von der gesetzlichen Energieeinsparverordnung ausgenommen ist. "Es liegt in der Eigenverantwortung der Architekten und der Bauherren sich selbst Grenzen zu setzen. Auf der anderen Seite können wir ohne diese engen Vorgaben viel mehr experimentieren", freut sich der Architekt.
Heraus kommen Gebäude, wie die Kirche St. Johannes in Frankfurt, die ohne zusätzliche Dämmung funktioniert, weil die verwendeten Steine in der Lage sind, den Raum im Winter warm und im Sommer kühl zu halten. Oder das Pfarrzentrum St. Franziskus in Regensburg, das wie ein Tennisschläger von einer Hightech-Membran aus Teflonphasern überspannt ist und das einfallende Licht aus dem Dachraum filtert. "So ein Material wurde in dieser Form und Größenordnung noch nicht eingesetzt", erläutert Königs.
Auf diese Weise ist der Kirchenbau bedeutungsvoll für die Baubranche. "Vor allem bei bestimmten Fragestellungen, die uns alle angehen", sagt Königs. Die Wegwerfgesellschaft habe sich ja leider auch im Bauwesen breitgemacht und so versuche die Kirche mit gutem Beispiel voranzugehen und langfristig zu denken. "Es geht um Bausysteme, die reparabel sind und in Würde altern können, die nicht nach drei oder fünf Jahren hässlich werden. Damit wir auch nach hundert Jahren noch das Gefühl haben, hier einen wertvollen Bestand vorzufinden."
In Altwarmbüchen war Flexibilität ein großes Stichwort. Hier ging es um eine neuartige innere Aufteilung des Gebäudes. "Wir wissen nicht, wie sich Kirchengemeinde weiter entwickeln wird, welche Rolle der Gottesdienst in Zukunft noch spielt. Aber die Aktivitäten einer Gemeinde sind vielfältig", sagt Dombaumeister Kesseler. Und so wurden Räume für Frauengruppen und Jugendgruppen der Gemeinde, sowie für die Vermietung an Außenstehende geplant. Der Kirchenraum selbst ist auf die Größe einer Werktagskapelle reduziert, lässt sich aber bei Bedarf mit Schiebewänden so vergrößern, dass etwa 130 Leute hineinpassen. Im Eingangsbereich gibt es zudem ein offenes Cafe für Passanten. "Die Aufteilung ist flexibel und multifunktional."
"Kirchliche Leuchttürme" in die Landschaft setzen
Ist das nicht alles sehr teuer? "Es wird ja immer unterstellt, dass die Kirche auf einem Geldsack sitzt und nur deshalb dieses Bauen unterstützen kann. In Wahrheit drehen Bistümer und Gemeinden den Euro genauso oft um, wie ein öffentlicher Bauherr," ist die Erfahrung seines Kollegen Ulrich Königs. Allerdings können sie andere Prioritäten setzen, weil sie sich bei Ausschreibungen nicht an enge Vorgaben halten müssen. "Die öffentliche Hand ist gesetzlich dazu verpflichtet, den billigsten Anbieter zu wählen. Die Kirche hat die Freiheit, in Qualität zu investieren und hat dafür mittel- bis langfristig einen ökonomischen und ökologischen Vorteil."
Auch das Bistum Hildesheim ist nicht reich. "Wir müssen mit unseren Mitteln haushalten", sagt Kesseler. "Auf der anderen Seite muss man auch mal kirchliche Leuchttürme setzen, um zu zeigen, dass wir noch eine Existenzberechtigung haben. Kirchen sind immer noch Identifikationsorte der Gesellschaft." Ihre Gebäude prägen ganze Viertel und haben auch eine Bedeutung für Menschen, die gar nicht zur Gemeinde gehören. Einer dieser Leuchttürme ist die Heilig-Kreuz-Kirche in Altwarmbüchen, die im Januar geweiht werden soll.