St. Gregorius am Elend blickt auf eine besondere Geschichte zurück

Die Kirche mit dem Skelett

Veröffentlicht am 13.02.2017 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 9 MINUTEN
Geschichte

Köln ‐ Das Relief über dem Portal der Kölner Kirche St. Gregorius am Elend fällt auf. Die "Elendskirche", wie sie auch genannt wird, hat eine spannende Geschichte - in der auch der berühmte Casanova vorkommt.

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Wer durch das eiserne Tor zur Kirche St. Gregorius in der Kölner Südstadt tritt, findet sich unvermittelt auf einem kleinen Friedhof wieder. Hier stehen Steinkreuze verstreut in einem kargen Beet. Die Zeit hat sie schief werden lassen. Auf einigen ihrer zerkratzen Gesichter lassen sich noch die Inschriften lesen: Namen und Todesdaten aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert. Dunkelgrüner Efeu rankt, es ist ruhig. Schräg gegenüber die Kirche, die auch Elendskirche genannt wird, in backsteinerner Mächtigkeit. Über dem Portal prangt ein Relief, das jedem Besucher sofort ins Auge fällt: ein Sarg, daneben eine Sanduhr und Bücher. Darinnen sitzt aufrecht ein Skelett, auf seinem Kopf eine Papstkrone.

Joachim Oepen kommt gemessenen Schrittes. "Wir gehen erstmal rein, dann erkläre ich alles", kündigt er an. Er ist Historiker und stellvertretender Leiter des Historischen Archivs des Erzbistums Köln. Mit St. Gregorius am Elend, so der volle Name des Gotteshauses, ist er bestens vertraut. "An dieser Kirche ist vieles besonders", meint er, als er die Kirche betritt. "Sie ist eine der letzten privaten Kirchen in Deutschland und damit der Öffentlichkeit normalerweise nicht zugänglich. Sie ist die einzige Kirche im Stil des Rokoko in Köln. Und sie hat eine ganz besondere Vergangenheit – die immer wieder auch mit dem berüchtigten Giacomo Casanova in Verbindung gebracht wird."

Ein alter Grabstein mit Witterungsspuren.
Bild: ©katholisch.de

Einer der alten Grabsteine auf dem Friedhof: "Ach lass, oh süßer Jesu mein, uns alle in dein Hertz hinein"

Im Inneren überrascht die Schlichtheit, weiß sind Wände und Decke, die Fenster farblos. "Das war so gedacht, da sollte nie Buntglas rein", erklärt Oepen. Die Altarfiguren aus weißem Marmor sind nur sparsam mit Gold verziert. Links steht der Patron Papst Gregor der Große, mit Buch, Federkiel und Papstkreuz, rechts der Co-Patron Michael mit Flammenschwert und Lanze, und in der Mitte sitzt Maria mit ihrem gekreuzigten Sohn auf dem Schoß. Darüber, über den Wappen der beiden Familien des Stifterehepaars von Groote und zum Pütz, thront Gottvater mit Strahlenkranz. Die helle Gestaltung steht im Einklang mit dem schlichten, rechteckigen Grundriss mit abgerundeten Ecken. "Was von 1764 bis 1771 hier entstanden ist, ist ein einheitliches Bild des sogenannten rheinischen Barocks", erläutert der Historiker. "Und es hat glücklicherweise, zumindest vom Stil her, alle Umwälzungen danach überstanden."

Bereits im 17. Jahrhundert wurde von der Adelsfamilie von Groote ein Kirchenbau errichtet. In Köln waren sie erfolgreich, gewannen an Einfluss und stellten bald Ratsherren und Bürgermeister. "Sie wollten etwas zurückgeben und errichteten eine Stiftung", erklärt Oepen. Nichts Ungewöhnliches in der Zeit: Wohlhabende Familien sorgten so für die Armen. "Außergewöhnlich sind jedoch die Ausmaße, sowohl des sozialen Engagements als auch des Gotteshauses. Andere Familien ließen Altäre oder kleinere Kapellen errichten, die von Grootes eine Kirche. Die Motivation dazu lässt sich vielleicht mit der Familiengeschichte erklären." Denn deren Vorfahren kamen aus dem niederländisch-belgischen Raum und waren nach Köln geflüchtet – wegen ihres katholischen Glaubens.

Errichtet auf einem "elendigen kirchove"

Ebenso bemerkenswert ist der Ort am Rande der Stadt, auf dem diese Kirche errichtet wurde: Auf einem "elendigen kirchove", einem "Friedhof der Elenden". Wohl schon im 12. Jahrhundert wurden hier Menschen aus der Fremde beerdigt. "Die Bezeichnung 'Elendskirchhof' sagt erstmal nichts darüber aus, wie vermögend die hier Beerdigten waren", erzählt Oepen. "Die, die hier liegen, waren in der Fremde, also im Elend, verstorben. Das konnten Arme, aber auch Kaufleute oder Pilger sein." Ende des 15. oder Anfang des 16. Jahrhunderts war auf diesem Friedhof eine Kapelle errichtet worden, die dem Erzengel Michael geweiht war. Diese Kapelle wurde dann ab 1675 von der Familie von Groote zur Kirche aus- und umgebaut. Patron wurde der Heilige Gregor der Große. "Die Bausubstanz der Kirche war aber wohl nicht besonders gut – und das Gebäude scheint zu klein geworden zu sein", vermutet Oepen. "Denn nicht ganz hundert Jahre später ließ die Familie die Kirche neu errichten, in der Form, in der es sie heute noch gibt."

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Video: © katholisch.de

Dieses Skelett mit Papstkrone über dem Portal von St. Gregorius fällt jedem sofort auf. Doch was hat es damit auf sich? Historiker Joachim Oepen erklärt.

Als Privatkirche überstand sie dann fast zwei Jahrhunderte, ohne dass größere Veränderungen an ihr vorgenommen wurden. "Man hat es verstanden, die Raumschöpfung zu bewahren." Im Zweiten Weltkrieg jedoch zerstörten Bomben die Kirche bis auf ihre Außenmauern. "Unter der Leitung des Architekten Karl Band wurde sie, wie auch die benachbarte Kirche St. Johann Baptist und den Pfarrbauten, ab 1952 wieder aufgebaut", erzählt Oepen. "Von der Inneneinrichtung waren nur noch Reste erhalten. Aber Band ließ den Hoch- und die Seitenaltäre sowie die Kommunionbank wiederherstellen." Ganz erhalten blieb die Struktur der Kirchenstiftung, die noch heute Eigentümer der Kirche ist: "Die zwei Provisoren, die die Verwaltung und Aufsicht innehaben, stammen immer aus der Familie – seit dem 17. Jahrhundert." Und noch etwas veränderte sich nicht: Das eigentümliche Relief mit dem Totenkopf. Es wurde nach dem Wiederaufbau erneut über dem Hauptportal angebracht.

Anspielungen auf den Tod

Das passt zum Gesamtbild. "Nicht nur dort gibt es Anspielungen auf den Tod", sagt Oepen und tritt wieder ins Freie. "Hier an der Außenwand, unter den Fenstersimsen, sind Totenköpfe nachgebildet." Dieses Motiv sei zum einen – ganz offensichtlich – dem Friedhof geschuldet, an dem die Kirche stehe. Zum anderen erinnere es an die eigene Vergänglichkeit: "Die Papstkrone, die Bücher, der Bischofshut: Das alles soll darauf verweisen, dass der Tod keine Rücksicht auf Rang, Alter oder Titel nimmt." Die Motivwahl sei sicherlich auch ein Ausdruck der melancholischen Todessehnsucht gewesen, die im Barock in Mode war. "Außerdem gab es seit dem Bau der Kirche die Bruderschaft 'Mariä Seelenhilf', die ihr Hauptanliegen im Gebet für die Seelen im Fegefeuer sah. Die Bruderschaft war an der Elendskirche angesiedelt." Sie existierte noch bis zum Zweiten Weltkrieg.

"Die Kirche ist ein Phänomen." Die Augen von Joachim Oepen leuchten. Er selbst kam aus gleich mehreren Gründen zum Thema Elendskirche: "Ich wohne zwar in der Nachbarschaft, aber richtig damit beschäftigt habe ich mich erst, als ich 2009 für die Wiedereröffnung von St. Johann Baptist an einer Festschrift mitgearbeitet habe – der Wiederaufbau verbindet ja beide Kirchen." Und: Als Archivar beim Erzbistum Köln verwalte er auch das Archiv der Elendskirche. Doch nicht nur die Kontinuität in der Geschichte und die architektonische Besonderheit haben ihn an der Kirche fasziniert. "Man hat es hier einfach verstanden, den Ort, an dem die Kirche steht, miteinzubeziehen". Der Elendsfriedhof – auch ein Fingerzeig für die aktuelle gesellschaftliche Situation, findet der Historiker: "Gerade jetzt sollten wir uns daran erinnern, dass viele, die hier leben, oder deren Vorfahren, nach dem Zweiten Weltkrieg ebenfalls als Flüchtlinge nach Deutschland kamen."

Eine Orgel auf einer Orgelbühne.
Die Familienwappen des Stifterehepaars von Groote (links) und zum Pütz am Hochaltar.
Eine Figur des Kirchenpatrons Papst Gregor der Große
Detailaufnahme: Das Haupt des gekreuzigten Jesus
Galerie: 8 Bilder

Und dann gibt es da noch die Geschichte mit Casanova. "Die ist pikant und wird gerne im Zusammenhang mit der Elendskirche erzählt", berichtet Oepen. Der legendäre Frauenheld berichtet nämlich in seinen Memoiren, er habe sich 1760 im Beichtstuhl von St. Gregorius versteckt und einschließen lassen, um dann durch eine Verbindungstür in das Haus der Bürgermeisterfamilie von Groote zu gelangen. "Dort soll er dann mit der hübschen Frau des Bürgermeisters Maria Ursula Columba von Groote eine heiße Nacht verbracht haben." Jetzt schmunzelt der Historiker: "Da war aber wohl eher der Wunsch der Vater von Casanovas Erzählung." Zum einen nämlich habe die Bürgermeisterfamilie nicht neben St. Gregorius gewohnt, sondern in einem Haus in der Glockengasse im Zentrum der Kölner Altstadt. "Und zum anderen gibt es in der Forschung viele Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Casanovas Berichten", meint Oepen. "Diese Geschichte sagt wohl am ehesten etwas über die Attraktivität der Frau von Groote aus."

Doch das tue der Beliebtheit der Erzählung keinen Abbruch, so der Historiker. "Das fasziniert die Menschen anscheinend genauso wie das Totenkopf-Relief und die Geschichte der Kirche." Interessierte können das Gotteshaus in der Regel aber nur bei Führungen oder Veranstaltungen besichtigen. "Die Kirche gehört ja der Familienstiftung. Die Familie feiert dort selbst Gottesdienste zu besonderen Anlässen." Auch an der Erhaltung, zu der ein Förderverein gegründet wurde, beteiligt sie sich: Bei der letzten Renovierung im Innenraum 2014 und 2015 wurde unter anderem eine Orgelbühne aufgebaut. "Nun steht die Orgel da, wo das damalige Instrument vor dem Krieg ursprünglich stand: Über dem Portal", erklärt Oepen. "Die Familie legt offenbar Wert darauf, dass sich alles in das Gesamtbild einfügt und zum Stil der Kirche und ihrer Vergangenheit passt."

So konnte sich auch der kleine Friedhof vor der Kirche seine eigentümliche Atmosphäre bewahren. Schon seit langer Zeit wird dort niemand mehr begraben; ein Großteil des Bodens ist beim Wiederaufbau gepflastert worden und bildet nun mit Backsteinmauern und eisernem Tor eine Art Vorhof. Die Autos auf der einige Meter entfernten Straße An St. Katharinen rauschen, ein Fahrradfahrer klingelt, zwei Kohlmeisen landen zeternd im Gebüsch. Kurz vor dem Tor wendet sich Joachim Oepen noch einmal um. "Für mich ist es immer etwas Besonderes, hierher zu kommen", meint er. "Es ist so überraschend ruhig hier, eine Oase der Stille."

Von Johanna Heckeley