Wie ein Benediktiner die Geschichte konserviert

Der Manuskriptjäger

Veröffentlicht am 11.04.2017 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Der Manuskriptjäger
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Kultur

Bonn ‐ Feuchtigkeit, Zeit und der "Islamische Staat": Alte Handschriften haben viele Feinde. Columba Stewart, ein amerikanischer Benediktinerpater, rettet die Manuskripte - ein nicht ungefährliches Unterfangen.

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Frage: Pater Columba, Ihr Hill Museum & Manuscript Library (HMML) hat, so steht es auf Ihrer Internetseite, mehr als 50 Millionen handgeschriebene Seiten gerettet. Warum ist das Digitalisieren von alten Manuskripten überhaupt so wichtig?

Columba: Das ist einerseits der einzige Zugang, den wir zur Vergangenheit, zur damaligen Literatur und dem historischen Material haben, denn nicht alles wurde später auch gedruckt. Andererseits ist jedes Manuskript ein Unikat. Also selbst, wenn es ein Text wie die Psalmen ist, also quasi der gleiche wie in anderen Handschriften, kommt er aus einer bestimmten Zeit und von einem bestimmten Ort. Darauf gibt es im Manuskript für gewöhnlich Hinweise: Der Schreiber machte meist Angaben dazu, wo und wann es geschrieben wurde, wer der Besitzer war oder wo es aufbewahrt wurde. Das ist ein Zugang zu einem Bereich von intellektueller und sozialer Geschichte, der uns hilft, zu rekonstruieren, wie sich Manuskripte und Ideen verbreiteten. Oft ist es nämlich so, dass ein Manuskript an einem Ort geschrieben wurde und wir es an einem ganz anderen auf der Welt finden. In Indien zum Beispiel digitalisieren wir Manuskripte, die in Mesopotamien, in der historischen Region zwischen Euphrat und Tigris in Vorderasien, entstanden sind. Man kann sich das wie eine altertümliche Form des Internets vorstellen: Wie waren die Menschen damals miteinander verbunden? Wie breiteten sich Ideen, Kulturen oder Texte aus? Welche Netzwerke für intellektuelle und religiöse Überlieferungen gab es? Das Studium der Manuskripte kann uns eine Antwort darauf geben.

Frage: Besonders deutschen Historikern dürfte 2009 die Bedeutung ihrer Arbeit schmerzlich bewusst geworden sein. Damals stürzte das Historische Archiv der Stadt Köln ein.

Columba: Ja, wir hatten dort zuvor die mittelalterlichen, lateinischen Handschriften auf Mikrofilm aufgenommen. Es waren über 1.200 Manuskripte. Und soweit ich weiß, wird ja noch immer an deren Rettung gearbeitet. Wir haben bis 1999 viel in Deutschland, aber auch in Österreich digitalisiert. Heute arbeiten wir nicht mehr häufig in Europa, denn die Bibliotheken dort digitalisieren längst selbst und das wird mit Geldern aus der Europäischen Union unterstützt. Ihr braucht uns also nicht mehr.

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Pater Columba steht vor Metallboxen, die genutzt wurden, um die Manuskripte aus Timbuktu in Sicherheit zu bringen.

Frage: Das HMML digitalisiert nicht nur christliche Schriften, sondern auch islamische. Wie kommt es, dass ein benediktinischer Orden daran Interesse hat?

Columba: Meine persönliche Forschung beschäftigt sich hauptsächlich mit christlichen Texten, sowohl aus dem Osten als auch aus dem Westen. Für mich persönlich stimmt das also, und auch unser Orden hat sicher eine christliche Orientierung. Aber wir haben an Orten wie Jerusalem gelernt, wo Christen und Muslime für viele Jahrhunderte zusammen gelebt haben. Wenn man dort eine christliche Bibliothek abfotografiert, warum dann nicht auch die islamische, die nur 100 Meter entfernt ist? Wenn die Leute zusammen gelebt, miteinander gehandelt, geredet und manchmal auch gestritten haben, dann können wir mit dem Digitalisieren beider Materialien ein vollständigeres Bild dieses Ortes und seiner Kultur abbilden. Und immer mehr Akademiker sind genau an dieser Fragestellung interessiert.

Frage: Aber Ihre Arbeit hört nicht mit der Digitalisierung der Manuskripte auf. Was macht das HMML noch?

Columba: Es gibt zwei weitere Schritte: Das Digitalisieren beinhaltet schon die Archivierung der Fotos, wozu Sicherungskopien und ähnliches gehört. Aber wir müssen die Fotos auch katalogisieren, also beschreiben, was drauf und drin ist, damit die Inhalte der Dokumente durchsucht und erforscht werden können. Das ist wie bei Urlaubsfotos, die man beschriften muss, damit man weiß, welche Kirche und welchen Berg man fotografiert hat [lacht]. Danach stellen wir sie online. Außerdem bieten wir Forschungsstipendien an, damit Wissenschaftler vor Ort in unserer Bibliothek forschen können. Und wir veranstalten "Summer Schools" für Doktoranden, wo wir den Umgang mit lateinischen Manuskripten oder orientalische christliche Sprachen unterrichten.

Frage: Wie kommt es, dass sich Benediktiner überhaupt Manuskripten verschrieben haben?

Columba: Wir haben einen ausgeprägten Sinn für die Vergangenheit und eine lange Geschichte. Wir sind der älteste monastische Orden im Westen und sind uns unserer Herkunft und unserer Wurzeln sehr bewusst. Der größte Teil unserer Geschichte ist aus der Ära der Manuskripte. Wir müssen also mit alten Handschriften arbeiten, wenn wir unsere eigene Vergangenheit verstehen wollen – aber auch die vormoderne Geschichte von vielen anderen Kulturen.

Frage: Und was hat Sie persönlich an Manuskripten fasziniert?

Columba: Oh, sehr viele verschiedene Dinge! Mit Manuskripten ist es so, als würde man verschiedene Menschen treffen. Jeder und jedes ist einzigartig und sie haben Gemeinsamkeiten, aber auch eigene Qualitäten. Jedes kann also seine eigene Geschichte erzählen und das allein ist hochinteressant. Aber ich bin auch an ihrer Verbreitung interessiert, also welche Wege sie zurückgelegt haben. An meiner Arbeit finde ich auch die Reisen spannend, um die Manuskripte zu finden. Das ist manchmal aufregend wie Detektivarbeit oder eine Jagd.

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Evangeliar aus dem 17. Jahrhundert aus einer armenischen Kirche in Aleppo, Syrien.

Frage: Für die Arbeit mit vielen Menschen aus verschiedenen Kulturen müssen Sie weite Reisen auf sich nehmen, diplomatisch vorgehen und sicherlich manches Mal auch Frustration aushalten. Was motiviert Sie dennoch, weiterzumachen?

Columba: Ja, manches Mal wird unsere Hilfe abgelehnt. Aber viel häufiger bekommen wir Zusagen. Mit unserer Arbeit verändern wir die Weise, wie Menschen die Gegebenheiten sowohl in ihrer Geschichte als auch in ihrer Gegenwart sehen. Zum Beispiel orientalisch-christliche Manuskripte aus Syrien, Armenien oder Äthiopien: Alle Bibliotheken Westeuropas und Nordamerikas zusammen haben etwa 9.000 Manuskripte aus diesen Gebieten. Wir haben vor Ort dagegen 36.000 Manuskripte fotografiert –  und darunter sind keine Duplikate! Wenn man das zusammenbringt, erhält man ein vollständigeres Bild, wie die Kulturen und Völker in der Geschichte wirklich waren. Das ist eine spannende Aussicht auf das langfristige Potential für die Wissenschaft. Aber es ist auch jetzt schon bereichernd, wenn man mit Gemeinschaften zusammenzuarbeitet, die eine Leidenschaft gegenüber ihrer eigenen Geschichte haben, aber große Zerstörung erlitten haben, wie in Mali, Irak oder Syrien, und ihnen helfen zu können.

Frage: Woher wissen Sie, dass ein Manuskript gerettet werden muss, und wie kommt der Kontakt zustande?

Columba: Das hängt von einer Vielzahl an Faktoren ab, etwa wenn eine Bibliothek oder Sammlung mit Manuskripten an einem Ort liegt, wo Krieg, innere Unruhen oder schwerwiegende Armut drohen. Ein anderer Faktor ist, wenn ein Aufbewahrungsort nicht die finanziellen Möglichkeiten hat, um die Manuskripte selbst zu digitalisieren und sie so der Welt zugänglich zu machen. Manchmal sind die Bibliotheken in der akademischen Welt bekannt und manchmal werden wir direkt angesprochen, etwa von dem Mitglied einer Familie, die eine Sammlung besitzt.

Frage: Es ist aber nicht immer damit getan, nur den Kontakt herzustellen. 2012 etwa riskierten Hunderte Freiwillige in Mali ihr Leben, als sie in einer geheimen Operation alte Handschriften aus dem von Islamisten besetzten Timbuktu schmuggelten.

Columba: Das stimmt. Viele der Menschen dort haben sich engagiert, um die wertvollen Manuskripte zu retten. Dabei lieferten sie sich nicht nur der Gefahr aus, von den Besetzern attackiert zu werden, sondern auch von Dieben, die es auf die Manuskripte abgesehen hatten. Auch unsere Freunde im Irak, mit denen wir zusammenarbeiten, haben sich oft in Gefahr begeben – zum Beispiel bei Einsätzen in Mossul oder wenn sie durch die Länder reisen, um Sammlungen zu besichtigen. Sie wissen nie, ob ihnen etwas passieren wird.

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In Studios wie diesem werden die Manuskripte in Malta digitalisiert.

Frage: Wenn Sie an die Manuskripte gekommen sind, was passiert dann mit ihnen?

Columba: Das wichtigste ist, dass die Manuskripte ihr Heimatland nicht verlassen. Sie werden vielleicht in sichere Gebiete gebracht, wie in Mali oder im Irak. Wir lernen Einheimische an, wie man sie digitalisiert. Wir stellen das Equipment und das Training und bezahlen die Arbeiter. In manchen Fällen fassen wir die Handschriften nicht einmal an! Unsere Arbeitsweise ist also ganz anders als die im 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts, als man die Handschriften einfach in den Westen brachte, wo sie heute noch in den Museen ausgestellt sind. Die Eigentümer und wir bekommen jeweils eine Kopie aller Fotos. Wir haben dann die vertraglichen Rechte, diese Fotos online zu stellen und sie Akademikern zur Verfügung zu stellen. Alle anderen Rechte verbleiben bei den Eigentümern.

Frage: Was sind die Vorteile dieses Vorgehens?

Columba: Die Vorteile für die Eigentümer sind, dass sie die Manuskripte, die sie manchmal über hunderte von Jahren besessen haben, anderen günstig zugänglich machen können. Außerdem ist die Digitalisierung auch eine Art von Versicherung für sie: Einerseits ist es eine Art Sicherheitskopie, wenn die Manuskripte verloren gehen. Andererseits können sie damit beweisen, dass sie die Eigentümer sind, wenn die Manuskripte gestohlen werden – wie in den 1970ern in Äthiopien, als Manuskripte von dort in den Westen gebracht worden waren. Wir konnten mit unseren Mikrofilm-Aufnahmen beweisen, dass das illegal geschehen ist. Einige der Manuskripte konnten so den Eigentümern zurückgegeben werden.

Frage: Wie ist das mit Ihnen? Sie haben selbst schon die verschiedenen Orte besucht, an denen die Manuskripte digitalisiert werden.

Columba: Ich war zwar in allen Ländern, in denen wir arbeiten, aber ich gehe nicht überall hin. Zum Beispiel war ich war mehrmals im Irak, aber nie in Mossul, nicht einmal, bevor es vom "Islamischen Staat" eingenommen wurde. Es bestand damals die Gefahr, als Ausländer gekidnappt zu werden. Da bin ich immer sehr vorsichtig. Ich halte mich an die Mitarbeiter vor Ort, die wissen, was sicher ist und was nicht. Außerdem reise ich eher unauffällig, also nicht mit gepanzertem Auto und Security-Personal.

Von Johanna Heckeley

Zur Person

Der Benediktinerpater Columba Stewart (59) ist seit 2003 Geschäftsführer des Hill Museum & Manuscript Library (HMML). Nach eigenen Angaben hat HMML 140.000 vollständige Manuskripte von 540 Partnerbibliotheken weltweit digitalisiert – darunter Jerusalem, Libanon, Äthiopien, Italien, Indien und Deutschland.