Jesuit Mertes über die Herausforderungen der Schulen in freier Trägerschaft

Betreibt die Kirche abgeschottete Eliteschulen?

Veröffentlicht am 11.08.2017 um 12:38 Uhr – Lesedauer: 
Ein Schüler schreibt etwas an eine Tafel.
Bild: © KNA
Schule

Bonn ‐ Über private Schulen kursieren viele Vorurteile. Eine neue Privatschul-Studie verfestigt genau das, sagt Klaus Mertes. Der Leiter eines katholischen Internats widerspricht den Vorwürfen.

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Das Schulgeld zu hoch und der Zugang zu wenig reguliert und kontrolliert: Schulen in freier Trägerschaft seien für Kinder aus einkommensschwachen Familien nur sehr bedingt zugänglich, lautet die Kritik einer im Juli 2017 veröffentlichten Privatschulstudie des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Der Jesuit Klaus Mertes widerspricht diesem pauschalen Urteil. Im Interview mit katholische-schulen.de fordert der Direktor des Jesuitenkollegs St. Blasien im Schwarzwald unter anderem mehr Unterstützung für die freien Träger durch den Staat – und erklärt, wie das aussehen könnte.

Frage: Pater Mertes, die Autoren der vor kurzem veröffentlichten Privatschulstudie des WZB haben kritisiert, dass der Zugang zu Privatschulen bzw. Schulen in freier Trägerschaft zu wenig reguliert und kontrolliert werde. Die Folge sei eine soziale Abschottung dieser Schulen. Wie reagieren Sie auf diese Kritik?

Klaus Mertes: Indem ich ihr, jedenfalls in der Pauschalität, widerspreche. Ich finde, so etwas kann man nicht pauschal über die freien Schulträger sagen. Rund 80 Prozent der privaten Schulen sind kirchliche Schulen. Zum einen: Der Begriff der privaten Schulen ist problematisch. Wir kirchliche Schulen und manch andere private Schulen sind öffentlich anerkannte Schulen und leisten einen Dienst, den sonst der Staat für viel teureres Geld leisten müsste. Das andere ist: Alle mir bekannten kirchlichen Schulen liegen – was das Schulgeld betrifft – weit unter dem sozialen Sonderungsverbot. In Nordrhein-Westfalen gibt es die hundertprozentige Erstattung, dort nehmen die privaten Schulen gar kein Schulgeld. Am Ende sind es einige wenige freie Schulen, die tatsächlich ein sehr hohes Schulgeld erheben, dadurch aussondern und einen Schatten auf den Gesamtbereich der sogenannten privaten Schulen werfen. Das sind also, wie ich finde, hoch ideologieanfällige und verallgemeinernde Behauptungen, die einfach so nicht stimmen und die in aller Deutlichkeit zurückgewiesen werden müssen.

Frage: Sie leiten das Kolleg St. Blasien im Schwarzwald, eine Jesuitenschule mit Internat. Wie ist die Situation dort? Und wie werden einkommensschwächere Familien unterstützt?

Mertes: Wie an allen kirchlichen Schulen, die Schulgeld erheben, gibt es selbstverständlich Stipendienregelungen. Man muss beim Kolleg St. Blasien noch einmal unterscheiden zwischen internen und externen Schülern. Ein Internat ist natürlich teurer, weil die gesamte Verpflegung und das Erziehungspersonal bezahlt werden muss. Wir haben 200 interne Schüler und 550 externe Schüler. Kein einziges Kind, das sich bei uns anmeldet, scheitert bei dem Schulbesuch wegen des Schulgeldes. Gerade hier im ländlichen Bereich haben wir kein Umfeld von Eltern, die das dicke Geld in der Tasche haben. Wir haben Schüler aus einfachsten sozialen Verhältnissen ebenso wie aus dem mittelständischen Bereich. Etwa 18 Prozent unserer externen Schüler bekommen Stipendien. Den Flüchtlingsfamilien, die wir bei uns aufgenommen haben, bezahlen wir zurzeit sogar zusätzlich ihren Deutschunterricht und ihre Deutsch-Prüfungen, weil der Staat uns da hängen lässt.

Mertes während einer Podiumsdiskussion Ende August 2013 in Berlin
Bild: ©KNA

Pater Klaus Mertes ist Direktor des Jesuitenkollegs St. Blasien im Schwarzwald.

Frage: In einem bereits zu diesem Thema erschienenen Artikel haben Sie mehr Kooperation zwischen dem Staat und freien Trägern gefordert. Was meinen Sie damit?

Mertes: Alle Probleme wären gelöst, wenn der Staat ganz einfach hundert Prozent zahlen, also die freien Schulen refinanzieren würde. Dann müssten sie kein Schulgeld erheben. Mehr Zusammenarbeit mit dem Staat würde auch bedeuten, dass wir uns im inhaltlichen Bereich stärker miteinander vernetzen.

Frage: Wie könnte das aussehen?

Mertes: Ein aktuelles Beispiel: Wir hatten in Baden-Württemberg eine intensive Debatte über den Lehrplan zum Thema der Pädagogik der sexuellen Vielfalt. Wir haben das abgeglichen mit den Erfahrungen, die wir an den kirchlichen Schulen gemacht haben mit den Präventionsprogrammen gegen sexuelle Gewalt. Das konnten wir miteinander ins Gespräch bringen und es ergab sich eine sehr fruchtbare Auseinandersetzung zwischen staatlichen und freien Trägern. Am Ende sind beide Seiten einen Schritt weiter gekommen. Aber einfach nur zu behaupten, der Staat stellt soziale Gerechtigkeit her, während die privaten eher eine Gefährdung der sozialen Gerechtigkeit sind, ist eben eine Unterstellung und desavouiert die Möglichkeiten der Zusammenarbeit.

Frage: Eine Forderung der Autoren der Studie ist, die soziale Struktur an Schulen in freier Trägerschaft offen zu legen. Wie beurteilen Sie das?

Mertes: Ich frage mich immer, wie man sich das vorstellt. Wenn die Träger Schulgeld erheben, gibt es zwei Möglichkeiten zu verfahren. Die eine ist, von allen Eltern zu verlangen, ihre Vermögensverhältnisse offen zu legen. Daraus ergäben sich dann Informationen für Ansprüche auf Schulgeldermäßigung oder Schulgelderlass. Doch damit  wäre ein bürokratisches Monster geschaffen, mit totalitärem Zugriff in die Privatsphäre von Elternhäusern. Die kirchlichen Schulen machen es aber so, dass auf Antrag – in der Regel auf Treu und Glauben - Stipendien oder Ermäßigungen gegeben werden. Man hat also im Grunde nur Einblick in die sozialen Verhältnisse derer, die Anträge stellen. Daraus darf man aber im Rückkehrschluss nicht schließen, dass diejenigen, die keine Anträge stellen, aus sozial starken Milieus kommen. In Deutschland ist die Schamkultur sehr ausgeprägt. Manche Elternhäuser reißen sich lieber ein Bein aus, um das Schulgeld zu bezahlen, als einen Stipendienantrag zu stellen. Das ganze Problem wäre am einfachsten gelöst, wenn es eine angemessene Refinanzierung aller Schulen durch den Staat gäbe. Gibt es aber nicht.

Frage: Und welche Rolle spielt das Thema Stigmatisierung in diesem Zusammenhang?

Mertes: Es ist ein ganz wichtiger Punkt, jedenfalls an unseren Schulen, dass die Informationen über vergebene Stipendien ausschließlich an die empfangenden Eltern weitergegeben werden, nicht an Lehrer und Erzieher, und schon gar nicht an Eltern anderer Kinder. Für die soziale Gleichheit von Schülerinnen und Schülern in der Schule ist es ja von äußerster Bedeutung, dass kein Kind einem anderen sagen kann: Mein Papi zahlt mehr als deiner. Die Behauptung, dass private Schulen die Reichen anziehen, überträgt sich ja auch auf das Selbstbewusstsein der Schulen und der Eltern. Die Stigmatisierung im gesellschaftlichen Diskurs spiegelt sich dann im Diskurs wieder, der in der Schule geführt wird: Unter den Eltern, die meinen, dass sie tatsächlich an einer Schule sind, in der es keine Armen gibt. Stimmt aber nicht.

Linktipp: Jesuiten verurteilen Misstrauen gegen freie Schulen

Eine aktuelle Studie kritisiert, dass arme Kinder wegen fehlender Zugangsregulierung keine freien Schulen besuchen können. Der Jesuitenorden sieht dagegen nicht die fehlende Kontrolle als Problem. (Artikel vom Juli 2017)

Frage: Sie meinen Stichworte wie "sozialer Brennpunkt" und "Eliteschule"?

Mertes: Genau. Alle diese Begriffe haben eine stigmatisierende Wirkung für die jeweils so bezeichneten Schulen. Nehmen Sie den Begriff der bildungsfernen Schichten. Aus der Tatsache, dass eine Familie arm ist oder wenig verdient, kann man nicht schließen, dass sie bildungsfern ist. Und andersherum gibt es auch wohlhabende Familien, denen es nicht um Bildung geht, sondern nur um Abschlüsse, damit ihre Kinder Karriere machen können.

Frage: Was ist ihrer Meinung nach wichtig, um soziale Durchlässigkeit in den Schulen zu fördern?

Mertes: Soziale Gerechtigkeit zu realisieren ist ein Schlüsselanliegen aller kirchlichen Schulen, auch im Hinblick auf die Zugänglichkeit. Und die kirchlichen Schulen legen sich da ja auch massiv ins Zeug. Nochmal: Es wäre die beste Lösung, wenn auch kirchliche Schulen kein Schulgeld mehr erheben müssten. Aber je mehr die Politik sich beeindrucken lässt von der Behauptung, die Schulen in freier Trägerschaft seien reiche Schulen und man könne bei ihnen sparen, indem man die Zuschüsse stetig absenkt, umso mehr drückt man sie in das Dilemma hinein, das man ihnen dann zum Vorwurf macht.

Frage: Nach Angaben der Studie halten am Beispiel Berlin fast nur Schulen mit religiös-weltanschaulicher Ausrichtung die staatlichen Vorgaben für das Schulgeld ein. Ist das auf eine soziale Ausrichtung dieser Schulen zurückzuführen?

Mertes: Auch hier gilt: Soziale Gerechtigkeit ist ein zentrales Thema im Selbstverständnis kirchlicher Schulen. Und die anderen Zuschüsse, die in die Schulen fließen, sind an der Stelle noch gar nicht benannt. Es ist ja nicht so, dass wir über das Schulgeld alles abdecken könnten. Hinzu kommen Gelder aus den Orden oder den Diözesen. Zusätzlich ist Fundraising ein wichtiges und sehr komplexes Thema geworden, weil es einen ja in neue Abhängigkeiten führen kann. Im Falle der von Orden getragenen Schulen nenne ich noch in aller Bescheidenheit die kostenlose Arbeit der Ordensleute  – durch das Armutsgelübde. Historisch gesehen haben die kirchlichen Orden ohnehin durch Gehaltsverzicht flächendeckende Bildung überhaupt erst ermöglicht. Und wenn der Staat über die Schulpflicht das Ganze zu einem gesellschaftlichen Muss macht, was ja auch richtig ist, dann sollte er die Schulen, die er als volle Ersatzschulen anerkennt, weil sie öffentliche Abschlüsse generieren, auch gleichberechtigt finanzieren.

Von Maike Müller