Gibt es eine Hierarchie im Himmel?
Frage: Prälat Moll, warum werden Personen aus dem Alten Testament nicht heiliggesprochen?
Moll: Das liegt einerseits daran, dass das Verfahren zur Heiligsprechung in der Kirchengeschichte erst spät eingeführt wurde. In den ersten Jahrhunderten nach Christus waren noch Akklamationen üblich. Das heißt, eine Heiligsprechung erfolgte auf Bitte der Mehrheit der Gläubigen durch den Bischof. Später dann konnte der jeweilige Diözesanbischof entscheiden, welche Personen kanonisiert werden. Erst im Mittelalter wurde die Heiligsprechung zu einem offiziellen kirchenrechtlichen Verfahren. Seit 1234 sind Eintragungen in das Heiligenbuch allein dem Papst vorbehalten.
Frage: Hat man das deshalb gemacht, um die Zahl der Heiligsprechungen einzuschränken?
Moll: Nein, es ging mehr darum, Familienbande, regionale Eigenheiten oder Willkür auszuschließen. Man brauchte dazu ein objektives weltkirchliches Verfahren.
Frage: Könnte man die Personen des Alten Testaments nicht auch auf diese Weise im Nachhinein heiligsprechen?
Moll: Nein, denn weder die Apostel noch andere Personen des Neuen Testaments, die wir heute in der Liturgie als Heilige verehren, wurden auf diese Weise zu Heiligen erklärt. Sie sind allein deshalb heilig, weil sie in der Gegenwart des Herrn Jesus Christus gelebt haben. Bei den Personen des Alten Testaments sieht das anders aus. Ihr Leben wird heilsgeschichtlich unter dem Gesetz der gebrochenen Natur des Menschen betrachtet. Das heißt man spricht konkret von der natura lapsa. Die biblische Schöpfungsgeschichte erzählt in Genesis 3, was der Auslöser für die gefallene Natur war. Eva hat sich von der Schlange betören lassen und die Frucht vom verbotenen Baum gegessen. Der sogenannte Sündenfall der Stammeltern beginnt und wird auf alle Personen des Alten Bundes übertragen. Die Personen des Neuen Testaments leben schon unter dem Gesetz der erlösten Natur, der natura elevata. Durch Jesus Christus sind sie von der Ursünde erlöst.
Frage: Trägt Eva nun die Schuld dafür, dass es keine heiligen Personen aus dem Alten Testament gibt?
Moll: Nein, so kann man das nicht sehen. Wenn, dann waren die Stammeltern gemeinsam dafür verantwortlich. Genesis 3 beschreibt deutlich, welche Folgen die Ursünde der beiden mit sich brachte: Sie werden aus dem Paradies vertrieben, Eva muss unter Schmerzen gebären und Adam wird im Schweiße seines Angesichts seine Arbeit verrichten. Diese Ursünde ist nicht mehr wiedergutzumachen. Die Personen des Alten Testaments bleiben immer im Schatten des Neuen Testaments, denn sie haben den Erlöser Jesus Christus noch nicht gekannt.
Frage: Könnte man Sie im Nachhinein nicht rehabilitieren?
Moll: Nein, hier geht es nicht um Rehabilitation. Mose und Abraham waren in einer anderen Situation der Heilsgeschichte. Daran kann man nicht rütteln. Denken Sie an Ihre eigene Biografie: Sie sind nun mal das Kind eines bestimmten Vaters und einer bestimmten Mutter. Daran können Sie nichts mehr ändern, das ist vorgegeben und bleibt so. Gewisse Personen des Alten Bundes haben natürlich auch ein gottwohlgefälliges Leben geführt, genauso wie die Personen des Neuen Bundes. Das wird in der Kirche daher auch wertgeschätzt und kommt in den vielen Heiligenlitaneien zum Ausdruck, in denen diese Personen konkret angerufen werden. Zum Beispiel bei der Priesterweihe oder am Allerheiligenfest werden Namen aus dem Alten Testament aufgezählt. Da heißt es dann: "Heiliger Abraham, bitte für uns" oder "Heiliger Mose, bitte für uns". Sie sind keineswegs in der feierlichen Liturgie vergessen.
Frage: Könnte die Katholische Kirche deren Verehrung nicht vereinheitlichen?
Moll: Die Heiligen des Neuen Bundes haben ein eigenes liturgisches Fest, ein eigenes Tagesgebet und eine Lesung, während die Heiligen des Alten Testaments nur eine sogenannte "commemoratio" haben, also eine Form der Erinnerung an sie. Im römischen Martyrologium der zweiten Auflage aus dem Jahr 2004 werden die Patriarchen und Propheten aus dem Alten Testament zwar erwähnt, zum Beispiel Abraham und David, aber nicht das dazugehörende Fest. Das gibt es schlichtweg nicht, nur einen Gedenktag für sie. Der Unterschied bleibt, das Alte Testament steht unter dem Gesetz der Sünde, das Neue Testament unter dem Gesetz der Gnade.
Frage: Gibt es eine Hierarchie im Himmel?
Moll: Der Himmel ist die Erfüllung aller Seligkeit. Und so wie es eine weltliche Hierarchie gibt, gibt es auch eine himmlische Hierarchie. Eine solche Rangordnung der Heiligen hat der griechische Schriftsteller Dionysius Areopagita im frühen 5. Jahrhundert eingeführt. Christen verehren demnach der Reihe nach zuerst die Gottesmutter Maria, dann die drei Erzengel Michael, Gabriel und Raphael und danach die Heiligen des Alten Bundes, also Abraham, Mose und David. Daran schließen dann die sogenannten "Schwellenheilige" an, die vor Jesus gelebt haben wie Johannes der Täufer und Josef, gefolgt von den Aposteln Petrus und Paulus. Auch hier wird eine Abstufung deutlich. Es folgen die Märtyrer, die wie Jesus Christus ihr Leben hingegeben haben. Diese Märtyrer liegen mir übrigens besonders am Herzen.
Frage: Wie viele Selig- beziehungsweise Heiligsprechungsverfahren sind aktuell im deutschen Martyrologium in Bearbeitung?
Moll: Wir haben im Deutschen Martyrologium über 1000 Märtyrer angeführt, etwa 400 Widerstandskämpfer aus der Nazizeit, dazu 100 aus dem Kommunismus und noch 80 Keuschheitsmärtyrer, davon 200 aus verschiedenen Missionsgebieten. Für diese laufen derzeit 100 Verfahren, Zum Beispiel für den Freiburger Diözesanpriester Dr. Max Joseph Metzger oder für den Münsteraner Konsulatsbeamten Wilhelm Frede. Übrigens eine davon ist Edith Stein.
Frage: Edith Stein ist doch schon heiliggesprochen?
Moll: Die heilige Teresia Benedicta vom Kreuz kann noch die dritte und damit letzte Stufe der Heiligsprechung erreichen, sie kann Kirchenlehrerin werden. Ich bin sogar dafür. Aus dem einfach Grund: Sie hat nicht nur philosophische Schriften verfasst, sondern sie hat sich zusätzlich mit Thomas von Aquin oder Dionysius Areopagita beschäftigt. Das finde ich außergewöhnlich. Sie ist eine Frau, die für ihr Wirken und Leben noch weiter geehrt werden sollte.
Frage: Welches Kriterium braucht es für eine Erhebung zur Kirchenlehrerin?
Moll: Wenn die Person eine neue Dimension in die Theologie gebracht hat, dann kann sie zur Kirchenlehrerin erhoben werden. Wir haben über 35 Kirchenlehrer, für die dieses Kriterium zutrifft. Zum Beispiel brachte der Kirchenlehrer Bonaventura das Moment der Liebe in die Theologie ein oder Thomas von Aquin vertiefte den Wahrheitsgedanken. Nach meiner Einschätzung wäre das bei Edith Stein die Erkenntnis der Wahrheit. Darin war sie als jüdische Philosophin und katholische Ordensfrau ein Vorbild des 20. Jahrhunderts. Also ich möchte, dass Edith Stein Kirchenlehrerin wird.
Frage: Das ist schon eine besondere Aufgabe, die Sie übernommen haben, oder?
Moll: Oh ja, aber das ist auch eine Art Martyrium, glauben Sie mir. Doch ich bin glücklich mit meiner Aufgabe und mit meinen Märtyrern. Mein Glaube ist durch die Beschäftigung mit den Heiligen enorm gewachsen.