Theologe Gerhards warnt vor drastischer Entwicklung

Kirchenabrisse: "Wir stehen erst am Anfang"

Veröffentlicht am 06.10.2017 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Architektur

Bonn ‐ Wie viele Kirchen wurden seit dem Jahr 2000 in Deutschland abgerissen? Katholisch.de hat die Zahl recherchiert und mit einem Experten gesprochen. Er ruft zum Umdenken auf – bevor es zu spät ist.

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Ein lauter Knall – und der einst so stolze Kirchturm kracht unter Getöse in sich zusammen. Was das Dynamit der Sprengmeister noch stehen lässt, walzen die Bagger platt. Nach wenigen Tagen bleibt nichts als eine große freie Fläche übrig – dort, wo über Jahrzehnte oder länger die religiöse Heimat vieler Menschen stand. Der Verlust der eigenen Kirche ist für Gläubige ein Horrorszenario. Doch sind Kirchenabrisse wegen Priestermangels, Gläubigenmangels und letztlich Geldmangels in Deutschland seit Jahren Realität. Wenn ein Sakralgebäude nicht mehr als Gottesdienstort zu halten ist, dann soll der Abriss immer nur die "ultima ratio" – also die letzte mögliche Lösung – sein; so jedenfalls formuliert es die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) in einer Arbeitshilfe aus dem Jahr 2003. Aber wie sieht die Wirklichkeit aus?

Seit der Jahrtausendwende wurden in Deutschland über 500 katholische Kirchengebäude als Gottesdienstorte aufgegeben. Das ergibt sich aus einer Umfrage, die katholisch.de mit allen deutschen Diözesen durchgeführt hat; zwei Bistümer konnten dabei keine konkreten Angaben machen. Zum Teil verblieben die Gotteshäuser in kirchlicher Hand und wurden einer neuen Nutzung zugeführt, andere wurden verkauft. Ein dritter Teil schließlich wurde abgerissen – nach Angaben der Diözesen rund 140 Gebäude seit dem Jahr 2000. Die Zahlen sind dabei sehr ungleich verteilt. Im Bistum Mainz etwa wurden in diesem Zeitraum keine Kirchen geschlossen oder abgebrochen; gleiches gilt für einige süddeutsche Diözesen. Anderenorts hingegen gab es zahlreiche Kirchenschließungen und -abrisse: So wurden im Bistum Essen 105 Kirchen geschlossen, 52 profaniert – entweiht – und 31 abgerissen. Im Bistum Münster wurden 55 Gotteshäuser profaniert und 24 abgebrochen.

Nun mag die Gesamtzahl der Abrisse von 140 bei mehr als 24.000 katholischen Kirchen und Kapellen in Deutschland nicht sonderlich hoch klingen. "Aber wir stehen in dieser Entwicklung auch erst am Anfang", betont der Bonner Liturgiewissenschaftler Albert Gerhards. "Wenn sich kein Umdenken einstellt, ist für die kommenden Jahre ein starker Anstieg von Abrissen absehbar." Gerhards, der sich seit den 1990er-Jahren mit dem Thema Kirchenschließungen beschäftigt, kritisiert, dass bereits heute vielerorts Gotteshäuser voreilig aufgegeben und profaniert werden. "Oft werden längst nicht alle Fragestellungen bedacht und Möglichkeiten ausgereizt", so der Liturgiewissenschaftler gegenüber katholisch.de.

Fehler bei Entscheidungsfindung

Die DBK empfiehlt in ihrer Arbeitshilfe eine abgestufte Entscheidungsfindung für die Umnutzung von Kirchen. In einem ersten Schritt soll geprüft werden, ob die Kirche weiterhin in irgendeiner Form liturgisch genutzt werden kann. Die nächste Option ist, dass bei einer Neunutzung ein kleiner Teil der Kirche als sakraler Raum erhalten bleibt – eine sogenannte "Teilumnutzung". Der dritte Schritt ist eine vollständige Umnutzung, was einen Verkauf bedeuten kann und dann eine Profanierung mit sich bringt. Als letzte Option bleibt der Teil- oder vollständige Abriss der Kirche.

Bild: ©privat

Albert Gerhards ist Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Bei der Entscheidungsfindung würde oft einseitig argumentiert werden, so Gerhards. "Einer der größten Denkfehler ist, dass man die Kirchenzahl auf die Priesterzahl umrechnet." Ein Priester kann nach dem Kirchenrecht eine Samstags-Vorabendmesse und zwei Sonntagsmessen feiern. "Das bedeutet nach dieser Denkweise: pro Priester drei Kirchen, und der Rest kann weg", so Gerhards. Doch gäbe es ein großes Spektrum an Gottesdiensten und gottesdienstnahen Formen, die auch von Laien geleitet werden könnten. "Sie brauchen dafür ebenfalls einen angemessenen Ort; also geht die Priester-Kirchen-Rechnung nicht auf", betont der Liturgiewissenschaftler.

Mit Fehleinschätzungen geht es laut Gerhards dann häufig weiter, wenn der "Wert" einer Kirche errechnet wird. "Da werden Wirtschaftsberater hinzugezogen, die Kirchen wie jedes anderes Gebäude bewerten: 'Grundstückswert minus Abrisskosten', und fertig." Bei einer solchen Rechnung würde man sich natürlich leichter von den Kirchen trennen. In Bezug auf Gotteshäuser greife das jedoch zu kurz, wichtig sei es, auch den "immateriellen Wert" anzuerkennen. Das meine zum einen die Kirche als Kunstwerk, "aber vor allem auch den beträchtlichen Wert, den das Gotteshaus für die Menschen vor Ort darstellt", so Gerhards. Kirchen seien stadtteilprägend – "identitätsstiftende Raummarken" nennt sie der Liturgiewissenschaftler. "Deshalb schätzen nicht nur Gläubige, sondern auch Menschen, die der Kirche fernstehen, das Gotteshaus in ihrem Ortsteil."

Allzu oft laute das Urteil dennoch "Profanierung", sagt Gerhards. Kirchenrechtlich wird eine Kirche durch ein Dekret des Bischofs entweiht. Dieses wird in einem "Übergangsgottesdienst", der letzten Messe in der alten Kirche, verlesen. "Der Gedanke ist eigentlich, dass man von der alten in eine neue Kirche aufbricht, doch haben diese Gottesdienste eher etwas von einem Beerdigungsritus", so Gerhards. Auf die Emotionen der Menschen werde dabei oft zu wenig Rücksicht genommen. Für die Gläubigen sei der Verlust der Kirche ein äußerst schmerzhafter Prozess, sagt der Liturgiewissenschaftler. "Man müsste sie über einen langen Zeitraum darauf vorbereiten und sie beim Übergang in eine neue kirchliche Heimat begleiten", so Gerhards. "Das kann man nicht nur mit einem Ritus erreichen." Dass die Menschen eine wirkliche neue Beheimatung fänden, würde aufgrund fehlender pastoraler Konzepte häufig nicht erreicht. "Faktisch ist es so: Wenn eine Kirche aufgegeben wird, kommen viele der alten Kirchgänger nicht mehr in die neue Kirche", sagt Gerhards. "Als aktive Gemeindemitglieder gehen sie mit großer Wahrscheinlichkeit verloren."

Viele Menschen verstört

Wird die Kirche profaniert, so wird in der letzten Messe das Allerheiligste aus der Kirche getragen und zum neuen Kirchort gebracht. Zudem dürfen die Reliquien nicht mehr im Gebäude verbleiben. Das betrifft auch die Reliquien, die in den Altar eingelassen sind. Das Inventar der Kirche wird anschließend in Depots verstaut, an andere Kirchen abgegeben oder veräußert. Laut Gerhards werden die Inventargegenstände mitunter in andere Länder exportiert; mit Kirchenorgeln gäbe es inzwischen einen schwunghaften Handel und eigene Firmen, die sich auf diesen spezialisiert hätten.

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Video: © Gregory Elson

Im nordrhein-westfälischen Immerath haben am Sonntag mehrere Hundert Menschen Abschied von St. Lambertus genommen. Wie das gesamte Dorf soll die Kirche dem Braunkohletagebau Platz machen und abgerissen werden.

Die Vorschrift, dass sämtliche Sakralgegenstände aus der ehemaligen Kirche entfernt werden müssen, wird jedoch längst nicht überall erfüllt. "Im Rheinland wurde zum Beispiel eine Kirche aufgeben, und dort war alles noch drin", berichtet Gerhards. "Da hat der Verkäufer eine richtige Eventgeschichte draus gemacht: 'Kirche als Hotel, Schlafen im sakralen Kontext'. Das ist damals durch die Presse gegangen und hat viele Menschen verstört." Auch deshalb plädiert der Liturgiewissenschaftler dafür, dass die Kirche Sakralgebäude nicht zu unbedacht verkaufen soll. "Spätestens im Fall eines Weiterverkaufs weiß man nie, was mit dem Gotteshaus passiert."

Es gäbe jedoch auch durchaus positive Beispiele, bei denen eine Umnutzung gelungen sei, so Gerhards. "St. Helena in Bonn etwa ist ein Kulturzentrum geworden: ein Begegnungsraum für Kirche und Kunst." Das Gotteshaus sei nie profaniert worden, eine Kapelle unterhalb der Kirche werde weiterhin als solche genutzt. "Diese Kirche hat ihre ganz eigene Würde, ihre sakrale Atmosphäre behalten." Sinnvolle Möglichkeiten der Umnutzung gibt es laut Gerhards viele: im Bereich Kunst und Kultur, in Kooperation mit karitativen Einrichtungen. "Da ergeben sich häufig Kooperationsmöglichkeiten, die auch zur langfristigen Finanzierung des Gebäudes beitragen." Wobei laut dem Liturgiewissenschaftler immer eine Teilumnutzung vorzuziehen sei. "Im Idealfall sollte jede Kirche auch als Ort der Gottesbegegnung erhalten bleiben."

Dass der Erhalt von Gotteshäusern nicht immer funktionieren kann, konstatiert allerdings auch Gerhards. Es sei stets eine Kosten-Nutzen-Frage. "Wenn zum Beispiel das Bistum Essen sagt, es hat kein Geld – und da ist es wirklich der Fall –, dann bleibt manchmal nichts anderes übrig, als einen Kirchenbau der 1960er-Jahre, der hochsanierungsbedürftig ist, abzureißen." In anderen, finanzstarken Bistümern beobachte er dagegen Entscheidungen, die schwer nachvollziehbar seien. "Da habe ich erlebt, dass teils spektakuläre Kirchenbauten aufgegeben werden, obwohl eigentlich genug Geld da ist", sagt Gerhards, "leider oft über die Köpfe der Gläubigen hinweg."

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Gegen den Willen der Menschen vor Ort zu entscheiden, sieht Gerhards unter anderem auch in den immer größer werdenden Pfarreien begründet. "Da ist dann aus einer Gemeinde mit gefährdeter Kirche nur eine Person im Kirchenvorstand vertreten", sagt Gerhards, "und die wird natürlich überstimmt, wenn es um die Zukunft der betroffenen Kirche geht." Ohnehin seien die immer größeren Radien der Seelsorgeeinheiten ein Problem. Ein wirkliches Zusammenwachsen der einzelnen Gemeinden erweise sich häufig als schwierig bis unmöglich. "Denken Sie an Großpfarreien auf dem Land", sagt der Liturgiewissenschaftler. "Da gibt es zwischen den einzelnen Dörfern seit Jahrhunderten große soziologische und geschichtliche Unterschiede oder Rivalitäten." Dort könne es entsprechend kein Zusammenwachsen und Zusammenfinden geben. "Der Weg immer größerer Pfarreien kann nicht gut gehen, wenn die gewachsenen Strukturen außer Acht bleiben", so Gerhards. Vielmehr müsse die Gemeinde vor Ort soweit es geht erhalten bleiben – die Kirche gewissermaßen "im Dorf gelassen werden".

Leichtfertiger Umgang muss aufhören

Neben der Rücksicht auf die emotionale Bindung der Menschen ist Gerhards künftig auch ein sensiblerer Blick auf architektur- und kunsthistorische Aspekte wichtig. "Heute ist es so, dass man es sich mit der Aufgabe und dem Abriss von Nachkriegsbauten oft zu leicht macht." Im 1958 errichteten Bistum Essen etwa seien zwar tatsächlich auf lange Sicht zu viele Kirchenbauten nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. "Dennoch müssen wir einen Blick für die Besonderheiten und Qualitäten einer jeden Epoche entwickeln." Jede Zeit, auch die jüngere Vergangenheit, habe hervorragende Bauten hervorgebracht. Ob alter oder neuer Bau: Der Denkmalschutz, so Gerhards, sei leider kein Garant dafür, dass die Heimatkirche stehen bleibt. "Er ist natürlich eine gewisse Bremse. Aber wenn man glaubhaft nachweisen kann, dass keine wirkliche Nutzung der Kirche mehr möglich ist, kann der Denkmalschutz auch nichts machen."

Kirchenabrisse sind nicht unbedingt ein neues Thema. "In der Säkularisation wurden zum Beispiel zahlreiche Kirchen abgebrochen", gibt Gerhards zu bedenken. Auch Umnutzungen habe es zu allen Zeiten gegeben. Was jedoch neu sei, so der Liturgiewissenschaftler, das sei die Quantität von Kirchenschließungen. Dieser leichtfertige Umgang müsse aufhören, denn das Potenzial für den Erhalt vieler Gotteshäuser sei da. "Und noch", betont Gerhards, "ist es für ein Umdenken nicht zu spät."

Von Tobias Glenz

Die Diözesen im Einzelnen

Aachen: 40 Kirchen aufgegeben, 9 Abrisse (alle wegen Braunkohletagebaus, 4 Ersatzbauten)

Augsburg: 0 Kirchen aufgegeben, 0 Abrisse

Bamberg: 3 Kirchen aufgegeben, 1 Abriss

Berlin: 20 Kirchen/Kapellen aufgegeben, 2 Abrisse

Dresden-Meißen: 2 Kirchen aufgegeben, 0 Abrisse

Eichstätt: 1 Kirche aufgegeben, 0 Abrisse

Erfurt: 11 Kirchen/Kapellen aufgegeben, 1 Abriss

Essen: 105 Kirchen aufgegeben, 31 Abrisse

Freiburg: 1 Kirche aufgegeben, 0 Abrisse

Fulda: 15 Kirchen aufgegeben, 1 Abriss

Görlitz: k.A.

Hamburg: 29 Kirchen aufgegeben, 6 Abrisse

Hildesheim: 56 Kirchen aufgegeben, 13 Abrisse

Köln: 28 Kirchen aufgegeben, 7 Abrisse

Limburg: 43 Kirchen aufgegeben, 8 Abrisse

Magdeburg: k.A.

Mainz: 0 Kirchen aufgegeben, 0 Abrisse

München und Freising: 2 Abrisse (beide durch Neubauten ersetzt)

Münster: 55 Kirchen aufgegeben, 24 Abrisse

Osnabrück: 14 Kirchen aufgegeben, 8 Abrisse

Paderborn: 23 Kirchen aufgegeben, 8 Abrisse

Passau: 4 Kirchen aufgegeben, 0 Abrisse

Regensburg: 2 Kirchen aufgegeben, 0 Abrisse

Rottenburg-Stuttgart: 8 Kirchen aufgegeben, 2 Abrisse

Speyer: 21 Kirchen aufgegeben, 4 Abrisse

Trier: 30 Kirchen aufgegeben, 5 Abrisse

Würzburg: 4 Kirchen aufgegeben, 3 Abrisse