"Es kann keinen Weg zurück zum Nationalismus geben"
Nicht nur die Staaten in Europa sind sich in vielen Dingen, allen voran die Migrationspolitik, uneinig. Auch in der europäischen Bischofskonferenz COMECE gibt es unterschiedliche Positionen. Die Veranstaltung "(Re)Thinking Europe", die Ende Oktober in Rom stattfindet, soll für Verständigung sorgen. Kardinal Reinhard Marx, Präsident des Rats der COMECE, spricht darüber, was die Kirche für das "Projekt Europa" tun kann.
Frage: Herr Kardinal, der COMECE-Dialog in Rom findet in einer schwierigen Situation für Europa statt. Was will die Kirche der Politik zum Thema Europa sagen?
Reinhard Marx: Wir sind als Kirche von Anfang an - seitdem es das Projekt der Europäischen Union gibt - positiv unterstützend dabei. Dieses Friedensprojekt nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts war immer auch ein Anliegen der Päpste. Die Europäische Einheit erschien vielen wie ein Traum: Dass das möglich ist nach so vielen Jahrhunderten der Auseinandersetzung und der Kriege. Das wollen wir als COMECE noch einmal herausstellen und zugleich ermutigen, an diesem "Projekt Europa" weiter zu wirken. Denn wir spüren auch, dass die EU in einer Krise ist. Europa hat immer wieder Krisen erlebt, aber die letzten Jahre waren doch sehr herausfordernd im Blick auf die Euro-, die Finanz- und jetzt die Flüchtlingskrise. Hinzu kommt die Frage: Wo wollen wir überhaupt hin in Europa? Was ist das Ziel? Es ist eine Orientierungsphase, in der man sich nun entscheiden muss, was die EU in den nächsten Jahrzehnten sein will. In diesem Suchprozess müssen wir als Kirche zuerst einmal Möglichkeiten zum Dialog, zum Verstehen schaffen.
Frage: Was würden sie als Erzbischof von München und Freising der Tagung mitgeben?
Marx: Drei Punkte sind mir besonders wichtig. Erstens: Europa ist ein Projekt, das man nicht aufgeben kann. Denn es ist eine einmalige Erfahrung in der Menschheitsgeschichte, dass Völker, Nationen sich frei entscheiden, einen Teil ihrer Souveränität abzugeben, nie wieder gegeneinander Krieg zu führen, sondern zur gemeinsamen Wohlfahrt ihrer Völker zusammen zu wirken in Achtung der Menschenrechte, und zwar demokratisch und rechtsstaatlich verfasst. Was für ein Geschenk! Der zweite Punkt: Wir brauchen eine größere Solidarität und Subsidiarität in Europa, um die Begriffe der katholischen Soziallehre zu verwenden. Jeder Ökonom weiß, dass eine Währungsunion ohne eine stärkere politische Union, ohne größere Solidarität, ohne größere Übereinstimmung in der Wirtschaftsverfassung, in der Finanzverfassung, auch in den sozialen Aspekten, nicht gelingen kann. Und deswegen ist das die große Herausforderung der nächsten Jahre. Ein dritter Punkt: Welches Zeichen sendet Europa in die Welt? Auf welchem Wertefundament steht Europa? Gerade in der jetzigen Zeit braucht es Perspektiven für die Weltgemeinschaft, einen Akteur, der sich am Weltgemeinwohl orientiert und nicht nur Eigeninteressen bedient. Denken Sie etwa an die Frage des Klimas, an das "eine Haus der Schöpfung", wie es Papst Franziskus nennt, und an die Sorge für die Armen und die kommenden Generationen. Europa, besonders die EU, steht hier in der Verantwortung. Es ist in gewisser Weise die Stunde Europas.
Frage: Zur jetzigen Stunde Europas gehört auch das erneute Auseinanderdriften von West- und Osteuropa. Ist die Vision von Johannes Paul II., der ein Europa der zwei Lungenflügel wollte, gescheitert? Ist das ad acta zu legen?
Marx: Nein, gerade nicht. Wenn ich an die Zeit 1989/1990 denke, die große Wende, da meinte man, es würde eine neue Weltordnung entstehen, und bei uns meinte man damit unsere westliche Ordnung. Das ist aber zu einfach gedacht. Wir müssen respektieren, dass die Länder in Osteuropa eine eigene Geschichte haben. Sie sind in ihren Identitäten mehrfach beschädigt worden im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Für manche sind die Entwicklungen sehr schnell gegangen, manche haben auch verloren. Man muss auch diese Suchbewegung mit in den Blick nehmen. Unsere Frage heute muss doch sein: Wie kommen wir in der Vielfalt Europas zu einem "common sense"? Es kann keinen Weg zurück in die nationalistische Variante geben. Wer Mitglied der EU ist, muss sich auf deren Grundlagen beziehen: Demokratie und Rechtsstaat. Aber es macht mir ein wenig Sorge, das gebe ich zu. Die Tendenz, die eigene Nation gegenüber anderen zu erhöhen, ist keine Entwicklung, die wir als Christen befördern sollten.
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Europa darf sich nicht abschotten, sagt Jesuit und Flucht-Experte Frido Pflüger. Im katholisch.de-Interview erklärt er, was sich an der Situation etwa im Mittelmeer dringend ändern muss. (Artikel von August 2017)Frage: Das ist ja auch einer der Gründe, warum populistische Parteien im Moment Wahlerfolge verzeichnen. Hat die Kirche das Bedürfnis nach Heimat, nach Identität in breiten Bevölkerungsschichten unterschätzt?
Marx: Es geht, meine ich, vor allem um die Frage, was ich unter Heimat verstehe, was kulturelle Identität ist. Das ist schwer zu definieren. Was stimmt ist, dass es in dieser schnelllebigen Zeit auch manche Verlierer der Globalisierung gibt. Die Anstrengung, die die konstruktive Gestaltung einer freien Gesellschaft auch bedeutet - nämlich, sich immer wieder neu einzulassen, zu diskutieren, Pluralität auch in der nächsten Umgebung auszuhalten -, ist ein hoher Anspruch. Und ich glaube, dass auch das eine der Ursachen ist, warum sich manche nach homogenen und geschlossenen Gesellschaften zurück sehnen. Das wird aber nicht gelingen: Es gibt keinen Weg zurück, sondern immer nur nach vorne. Diese Tendenzen sind ja weltweit zu beobachten, das hat nicht ursächlich mit Europa zu tun.
Frage: Diese Populismen gibt es auch innerkirchlich. Sollte das bei der Tagung in Rom ein Thema sein?
Marx: Wir haben auch in der Kirche Rückwärtsbewegungen und man will sich der Tradition neu vergewissern. Das kann auch positiv sein. Aber wenn es zur Restauration gerät, zur Abgrenzung gegen andere legitime Auffassungen, dann wird es zum Nationalismus, zum Populismus - auch in der Kirche. Dann wird die Aussage nach vorne getragen: Nur ich bin in der Wahrheit, die anderen nicht. Das verhindert Großzügigkeit des Denkens, Aufbruch ins Neue. Hinter verschlossenen Türen wird mit allen Mitteln das verteidigt, was man hat. Manchmal werden auch kirchliche Traditionen benutzt, um die eigene politische Identität zu befördern, ebenso umgekehrt. Es gibt gegenseitige Instrumentalisierungen: Manche kirchlichen Gruppen benutzen Politik, um ihre Interessen durchzusetzen, manche Politiker benutzen Religion, nicht nur im Christentum, um ihren Ideen Schwungkraft zu geben. Darüber kann man sich sehr wohl austauschen, aber: Das Evangelium ist letztendlich nicht politisch manipulierbar.
Frage: Papst Franziskus, der Lateinamerikaner, hat einmal Europa mit einer unfruchtbaren Großmutter verglichen. Glauben Sie, dass er Europa jetzt auf einem besseren Weg sieht?
Marx: Die Frage ist: Hat Europa Lust auf Zukunft, Lust auf das Leben? Es wäre ein wichtiger Impuls zu sagen: Europa, du bist Teil der Zukunft, zieh dich nicht zurück auf dich selbst, verteidige deinen Wohlstand nicht hinter einer Mauer. Das eingemauerte Europa, das sich abschottet, wäre "unfruchtbar". Ich glaube, Papst Franziskus wollte mit diesem Bild sagen: Seid ihr bereit für die anderen oder wollt ihr euch abschließen? Denn das kann nicht der Weg Europas sein. Johannes Paul II. hat sehr schön gesagt: Europa heißt Öffnung. Und das war und ist für mich immer ein Leitmotiv für meine Arbeit in und für Europa. Und dazu soll die COMECE und der "(Re)Thinking Europe Dialogue" in Rom einen Beitrag leisten.
Stichwort: EU-Bischofskommission COMECE
In der EU leben rund 273 Millionen Katholiken. Das entspricht einem Anteil von 54 Prozent der Bevölkerung. Die Bischofskonferenzen der 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind vertreten in der EU-Bischofskommission COMECE. Die Abkürzung kommt aus dem Lateinischen und steht für Commissio Episcopatum Communitatis Europensis. Die COMECE verfügt über ein ständiges Sekretariat mit Sitz in Brüssel. Sechster Vorsitzender in ihrer über 35-jährigen Geschichte ist der Erzbischof von München und Freising und Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx (64). Generalsekretär der COMECE ist seit 2016 der Franzose Olivier Poquillon.
Die COMECE entstand 1980, ein Jahr nach den ersten Direktwahlen des Europaparlaments. Das Sekretariat der COMECE ähnelt als Verbindungsstelle zur EU-Politik den Katholischen Büros in Deutschland. Auch dort halten Kirchenvertreter Kontakt zu Parlamenten und Regierungen in Bund und Ländern und versuchen, Politik im Sinne der kirchlichen Lehre mitzugestalten. Deutsche Vertreter prägten Struktur und Inhalte der COMECE entscheidend mit. Von den bislang sechs Vorsitzenden kamen drei aus Deutschland: Gründungspräsident war der Bischof von Essen, Franz Hengsbach (1982-1984). Auf ihn folgten Bischof Josef Homeyer von Hildesheim (1993-2006) und seit 2012 Marx.
Leitend für COMECE-Stellungnahmen ist die Katholische Soziallehre. Ihre Arbeitsthemen reichen von Religion und Staat über die Rolle der EU in der Welt bis zu Gesellschaftsfragen. 2016 äußerte sich die COMECE unter anderem zur neuen Globalen Strategie für die EU-Außen- und Sicherheitspolitik sowie gemeinsam mit der US-Bischofskonferenz zum Freihandelsabkommen TTIP. (KNA)