Wie baut man heute Kirchen?
Seit dem Jahr 2000 wurden in Deutschland mehr als 500 katholische Gotteshäuser geschlossen und rund 140 davon abgerissen. Das hat kürzlich eine katholisch.de-Umfrage unter allen deutschen Diözesen ergeben. Mit Blick auf die Strukturreformen, die demnächst in mehreren Bistümern anstehen, besteht die berechtigte Annahme, dass die Zahlen sich bald deutlich erhöhen werden. Egal ob Umnutzung, Verkauf oder eben Abbruch: Vielerorts kann man sich schon jetzt des Eindrucks nicht erwehren, dass es mit den Kirchengebäuden ausschließlich den sprichwörtlichen Bach runtergeht. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Seit der Jahrtausendwende hat es in Deutschland tatsächlich auch Kirchenneubauten gegeben: Wie die 27 deutschen Diözesen gegenüber katholisch.de angegeben haben, sind hierzulande seit 2000 rund 50 neue Kirchen errichtet worden; eine Handvoll Gotteshäuser befindet sich derzeit noch im Bau.
Die Zahl der Kirchenschließungen übersteigt die der Neubauten demnach um mehr als das Zehnfache; im Schnitt kommen innerhalb von 17 Jahren weniger als zwei neue Kirchen auf jedes Bistum. Was zudem auffällt: Neu gebaut werden Kirchen selten, weil die Zahl der Gottesdienstteilnehmer gestiegen wäre. Neubauten dienen zumeist als Ersatzkirchen. Sie ersetzen etwa solche Gotteshäuser, die baufällig wurden oder deren Standort aus bestimmten Gründen verlegt werden musste. So sind seit der Jahrtausendwende im Bistum Aachen neun Kirchen wegen des Braunkohletagebaus abgerissen worden. Im Gegenzug wurden vier Gotteshäuser als Ersatzbauten an anderen Orten errichtet. Zu den "Spitzenreitern" in Sachen Neubau zählt die Diözese Dresden-Meißen mit bislang fünf neu errichteten Kirchen; dazu gehört auch die neue Propsteikirche St. Trinitatis in Leipzig aus dem Jahr 2015. München und Freising hat seit 2000 drei Kirchen neu gebaut, drei weitere entstehen dort zurzeit. Dagegen gibt es aber auch diejenigen Bistümer, die keinen Neubau zu verzeichnen haben; darunter das Bistum Essen, das mit 105 geschlossenen Gotteshäusern zugleich die meisten Kirchenschließungen im neuen Jahrtausend aufweist.
Auch wenn die Zahl der neu errichteten Kirchen überschaubar ist, gibt es für Architekten im sakralen Bereich dennoch einiges zu tun. Viele alte Kirchen werden restauriert oder umgestaltet. Ulrich Königs betreibt gemeinsam mit seiner Frau Ilse seit 1996 das Büro "Königs Architekten" in Köln, das sich auf Bauen im kirchlichen Bereich spezialisiert hat und bislang an mehr als zwei Dutzend solcher Projekte mitgewirkt hat. Unter die Aufträge fällt auch der erste Kirchenneubau im Bistum Münster seit der Jahrtausendwende: die 2012 geweihte Kirche St. Marien im Nordseebadeort Schillig im Landkreis Friesland, auch "Kirche am Meer" genannt. Katholisch.de hat mit Ulrich Königs über die Herausforderungen im heutigen Kirchenbau und die Zukunft seiner Zunft gesprochen.
Frage: Herr Königs, Kirchenneubauten sind heute eine Seltenheit geworden. Fühlt man sich geehrt, wenn man als Architekt für ein solches Projekt ausgewählt wird?
Königs: Das Bauen von Kirchen – ob Neubau, Umbau oder Transformation für eine Umnutzung – empfinde ich als absolutes Privileg. Kirchenbauen ist das, was sich viele Architekten als Traumaufgabe wünschen. Denn man kann vieles von dem umsetzen, womit sich ein Architekt am liebsten beschäftigt: der pure Raum, die Wirkung dieses Raums, die wechselseitige Wirkung von Licht, Form und Material. So etwas kommt natürlich auch in einem Schul- oder Wohnungsbau vor, aber nicht in dieser Reinform. Das macht das Bauen von Kirchen zu einer sehr erstrebenswerten und nicht zuletzt anspruchsvollen Aufgabe.
Frage: Um zunächst über das äußere Erscheinungsbild zu sprechen: Wie sieht ein gelungenes Kirchen-Design heute aus?
Königs: Ich denke, zwei Dinge sind maßgeblich: Das Kirchenbauen sollte immer unser Verständnis von Bauen in der heutigen Zeit widerspiegeln. Das heißt: Modernsein, Nach-vorne-gerichtet-Sein, was Innovation angeht und auch was Nachhaltigkeitskriterien angeht. Die Modernität, das Neue, das auf die Zukunft Ausgerichtete sollte in einem Kirchenbau also zum Ausdruck kommen. Das war übrigens auch in den vergangenen Jahrhunderten im Kirchenbau immer das Ziel. Gleichzeitig sollte ein Kirchenneubau aber nicht die jahrhundertalte Tradition außen vor lassen. Das bedeutet: aus dem Alten, dem Wissen, der Typologie, dem Formenkanon schöpfen und sich darauf beziehen. Es ist diese Polarität aus Modern-sein-Wollen – und -Müssen – und andererseits das Bestehende und Tradierte dabei als Ressource zu nutzen, die für uns maßgeblich ist.
Frage: Können Sie das am Beispiel von St. Marien in Schillig einmal konkret machen?
Königs: Wenn Sie diese Kirche abstrakt betrachten, also schlicht als Grundriss von oben, haben Sie eine völlig tradierte klassische Dorfkirche vor sich: Vorne am Eingang haben Sie den Turm, dann schließt sich ein kreuzförmiger Grundriss an, der hinten in einer halbkreisförmigen Apsis endet. Eigentlich eine bekannte Figur, die man schon hunderte Male gesehen hat in der Kirchenbaugeschichte. Andererseits haben wir diese Figur so transformiert, dass daraus auch Neues gelesen werden kann, andere Bezüge entstehen. Es öffnet sich ein Interpretationsfenster. In Schillig als Touristenort an der Nordsee fällt das sehr leicht: Mit dem geschwungenen Design assoziiert man maritime Formen und Figuren, Wellen, Dünen und Meer. Man kann beides sehen: klassische Kirche und etwas, das darüber hinausgeht. Es erscheint vertraut, aber zugleich auch innovativ und neu.
Frage: Welche Kriterien spielen für die innere Gestaltung einer Kirche eine Rolle?
Königs: In der heutigen Zeit muss man bedenken, dass wir als Kirchenbesucher aus einer Umgebung kommen, die uns wahnsinnig überfüttert mit medialen, reizüberflutenden Herausforderungen. Im Gegensatz zu Kirchenbesuchern in früheren Zeiten kann uns deshalb ein neuer Kirchenbau kaum zu einer Transzendenzerfahrung bringen, indem er uns noch mehr Reizen aussetzt. Das Stichwort heißt deshalb: Reduktion und Zurückführung auf wesentliche Grundelemente in Material, Form und Lichtführung. Das Reduzierte stellt dem Alltäglichen das Sakrale gegenüber. Heißt: Eine prächtige, aber überfordernde Innenausmalung und -ausstattung ziehen uns heute weniger in den Bann des Glaubens; das ist besser mit Schlichtheit zu erzielen. Wir glauben, dass sich die meisten Menschen durch eine reduzierte, aber dennoch starke Sprache im Baustil ansprechen lassen.
Frage: Das Zweite Vatikanische Konzil bedeutete einen Einschnitt gerade auch in liturgischer Hinsicht. Inwiefern spiegelt sich das in modernen Kirchenbauten wider?
Königs: Gerade der Blick auf die "Circumstantes", also die den Altar umstehenden Gläubigen, ist für uns Umsetzung des Zweiten Vatikanums. Für das Bauen heißt das, die Konfrontation, das reine Gegenüber von Priester und Gemeinde aufzubrechen und ein tatsächliches Versammeln um den Altar herum zu ermöglichen. Das geschieht in einer kreisförmigen Anordnung der Bänke, die jedoch kein reines Zentrieren bedeutet: wo also der Altar in der Mitte stünde und man sich von allen Seiten gegenseitig anschaut. Es muss schon das Gefühl entstehen, dass sich ein Zentrum bildet, das Versammeln muss aber einer natürlichen Bewegung entsprechen. Wenn ein Straßenmusiker auftritt, bildet sich automatisch eine Anordnung von Zuschauern, die einen gewissen Abstand halten, aber kreisförmig um ihn herum stehen. Meistens ist das ein Zweidrittelkreis, denn hinter dem Musiker will keiner stehen. Dieser Art natürlicher Versammlung geben wir in modernen Kirchen ein Bild.
Frage: Oft ist es nicht der komplette Kirchenneubau, sondern eine Um- oder Neugestaltung von alten Kirchen, mit der Architekten heute beauftragt werden...
Königs: Wir werden im zunehmenden Maße angefragt für Bauaufgaben, bei denen eine alte Kirche verändert werden soll. Der eine vollständig andere Nutzung oder eine andere Nutzung gleichzeitig zur liturgischen Nutzung gegeben werden soll. Jede Aufgabe ist da anders, denn jede Kirche ist einzigartig in ihrer Konzeption. Was aber allgemein gilt: Die Veränderung einer Kirche zur Umnutzung oder Teilumnutzung wird von den Menschen vor Ort als großer Verlust empfunden und es entsteht Widerstand – nicht nur bei Kirchgängern – gegen solche Pläne. Das muss sehr ernstgenommen werden und wir müssen sensibel damit umgehen. Meine Erfahrung lautet: Man kann erst das Alte loslassen, wenn das Neue sichtbar wird. Heißt: Wir müssen mit Bildern arbeiten, das Neue der Gemeinde und der Bevölkerung vortragen und sehr viel sprechen und erklären. Erst wenn sich die neuen Bilder in den Köpfen verfestigen und positiv ankommen, dann ist man bereit, ein stückweit los- und den notwendigen Veränderungsprozess zuzulassen.
Frage: Kirchenarchitekten werden demnach auch in den kommenden Jahren nicht arbeitslos?
Königs: Absolut nicht. Durch die Strukturreformen in den Bistümern kommen demnächst viel mehr Bauaufgaben im kirchlichen Bereich auf uns zu, als es noch vor 20 Jahren der Fall war. Und das meint nicht nur die Transformierung von Kirchen, sondern auch Neubauten. Als Beispiel: Drei Gemeinden werden zusammengelegt. Zwei von drei Kirchenstandorten werden aus verschiedenen Gründen aufgegeben. Die dritte soll zwar als Standort verbleiben, doch handelt es sich um eine bautechnisch schlecht errichtete Kirche aus der Nachkriegszeit. Anstatt diese mühevoll zu sanieren, wird gesagt: Ok, wir bauen uns ein Gemeindezentrum mit einer neuen Kirche und führen dort die drei Gemeinden zusammen. Kirchenbauen hat also definitiv eine Zukunft.