Rituale tragen uns durchs Leben
Im preisgekrönten Film und Publikumshit "La La Land" (2016) von Damien Chazelle lässt sich ganz am Anfang eine kraftvolle Szene entdecken: Unzählige Menschen bleiben auf der Autobahn in einem Stau stecken. Horror! Dann steigt eine junge Frau aus ihrem Auto und beginnt zu tanzen. Mit ihrer ansteckenden Lebensfreude gelingt es ihr, immer mehr Menschen aus ihrem Blockiertsein herauszulocken. Schlussendlich tanzen Hunderte auf ihren Autos herum. Toll! Völlig verrückt und unrealistisch!?
Mitten im Alltag aus dem Hamsterrad befreien
Ich brauche solche Kinobilder, die meine Vorstellungen verrücken und mir aufzeigen, dass ich immer viel mehr bin, als ich im Moment wahrnehme. Ich habe die Möglichkeit, mich auch in unangenehmen Alltagssituationen herausholen zu lassen aus der Ecke des Ärgers und der Verkrampfungen. Solche Kinofilmbilder tun mir unendlich gut. Ich schaue sie mir immer wieder an, DVD sei Dank! Ich bringe sie gerne in Verbindung mit der Kraft der Rituale, die uns mitten im Alltag aus dem Hamsterrad befreien können.
Schönes und Schweres, Leben und Sterben gehören zusammen
Was ist ein Ritual? "Es ist das, was einen Tag vom anderen unterscheidet, eine Stunde von den anderen Stunden", lässt Antoine de Saint-Exupéry den Fuchs zum kleinen Prinzen sagen. Darum "muss es feste Bräuche geben". In allen Kulturen findet man bei den großen Ereignissen im Leben wie bei Geburt, Schul- und Berufsanfang, Erwachsenwerden, Heirat, Geburtstage, Rhythmus der Jahreszeiten, Rentenbeginn, Krankheit und Sterben sogenannte Übergangsriten, in denen Menschen verinnerlichen können, das Schönes und Schweres, Leben und Sterben zueinander gehören. Dazu gehört auch die Aufteilung von Arbeits- und Ruhetagen, eine Sonntagskultur, die uns regelmäßig erinnert, miteinander eine gute Balance im Leben einzuüben.
Rituale sind für mich keine magischen Akte und fremdbestimmende Pflichtübungen, sondern Befreiungsmomente, in denen ich mich dankbar erinnere, dass Gott all unseren Ritualen mit seiner Gnade zuvorkommt. Diesen Geschenkcharakter des Lebens können wir nie genug feiern, wenn wir auch gut mit uns selbst sein möchten und Lebensfreude und Mitgefühl mit anderen teilen. Gesegnet zu sein vor aller Leistung ist heute in einer Welt, in der wir dauernd online sein sollten, nicht mehr selbstverständlich. Immer mehr Menschen, schon Kinder und Jugendliche, werden krank an einer Lebenseinstellung, in der alles immer schneller und machbarer sein soll.
Im Rhythmus des Ruhens erwachsen neue Kraft und Kreativität
Schöpferisch und in seinem Element zu sein, gehört wesentlich zu unserem Leben. Zur Kreativität gehört jedoch immer auch die Zeit der Brachzeit. Bäume sind mir seit Kindesbeinen spirituelle Begleiter, weil sie mich zu einem gesunden Rhythmus locken. Bäume erhalten keine Sinnkrise, wenn sie im Herbst ihre Blätter verlieren! Sie vertrauen sich dem Rhythmus des Ruhens an, damit sie im Frühjahr voller Lebenskraft und bezaubernder Kreativität wieder mit ihrer Grünkraft da sind. Rituale holen uns hinein in diesen großen Kreis des Lebens, damit wir nicht immer produktiv sein müssen, sondern in "wachsenden Ringen" (Rainer Maria Rilke) ein Leben lang reifen und wachsen dürfen. Zupacken und Geschehenlassen heißen die beiden zentralen Grundhaltungen eines spirituellen Weges. Darin eröffnen sich uns Spuren zum Glück.
Innehalten und in den eigenen, tragenden Rhythmus einstimmen
Während einer Vortragsreise im Südtirol bin ich im Herbst 2003 in Brixen dem letzten Buch von Dorothee Sölle (1929- 2003) begegnet, das sie nicht mehr zu Ende schreiben konnte. Was für ein bewegender Moment; ich erinnere mich, wie wenn es gestern gewesen wäre. Ich öffne zufällig ihr Buch "Mystik des Todes" und entdecke auf der Seite 74 drei Sätze, die ich nicht auswendig lernen muss, weil sie seither in meinem Herzen sind. Die engagierte Theologin und Friedenskämpferin aus Hamburg schreibt: "Wir brauchen eine neue Spiritualität, die den Rhythmus des Lebens kennt und akzeptiert. Wir können uns selbst unterbrechen, um diesen Rhythmus wahrzunehmen und uns in ihn einzustimmen. Er ist vor uns da und nach uns da."
In wenigen Worten gelingt es ihr zu umschreiben, wie sich eine spirituelle Kultur entfalten kann, in der ein gesunder Lebens- und Arbeitsrhythmus möglich wird. Ich spreche nicht von einer "neuen" Spiritualität, sondern von der uraltbiblischen Sabbatkultur, wie sie schon auf der ersten Seite der Bibel aufscheint. Sie erinnert uns an den lebensnotwendigen Rhythmus des Lebens, der sich durch Tag und Nacht, Leichtigkeit und Schwere, Erholung und Arbeit, Lachen und Weinen, Spannung und Entspannung, Leben und Sterben ausdrückt. In einer Welt, in der die Geschäfte 7 Tage pro Woche und 24 Stunden pro Tag offen sein sollten, können wir diesen lebensfördernden Rhythmus nicht mehr voraussetzen. Als neue Freiheit wird uns diese subtile Versklavung vorgegaukelt. Sie entfremdet uns von uns selbst, von unseren Mitmenschen, von unserem Verwurzeltsein in der Schöpfung, vom Geschenk des Lebensatem Gottes. Wir können uns den Tag hindurch unterbrechen, tief durchatmen, damit unser Alltag bunter und menschlicher wird. Neben der lebensnotwendenden Pflege von gemeinschaftlichen Ritualen ermutige ich besonders zu kleinen Ritualen im Alltag, Atempausen für die Seele, die uns in Verbindung bringen mit unseren inneren, göttlichen Quelle.
Alltagsrituale holen die Lebensenergie zurück in den Körper
Unsere Quelle wartet schon immer auf uns und lädt uns ein, regelmäßig daran zu denken, dass in jeder und jedem von uns ein heiliger Ruheort ist, in dem wir Vertrauen schöpfen können. Wir haben viel mehr Möglichkeiten als wir meinen, um kleine Nischen der Stille zu schaffen, uns zu sammeln und zu entspannen. Wir haben immer schon eine innere Begleitung, unseren Atem, der unsere Lebendigkeit nur stärken kann, wenn wir ihn fließen lassen. Im Qi Gong habe ich eine unscheinbare, kleine Übung entdeckt, das Reiben der Hände, die ich überall, wo ich bin, anwenden kann. Sie heißt: "Wecke das Qi" – wecke deine Lebensenergie, die ich auch gerne mit dem heilenden Atem Gottes umschreibe. So wird sie ausgeführt: Ich stehe hüftbreit da, meine Knie sind nicht durchgestreckt. Ich reibe mit dem Atemfluss eine Weile meine beiden Hände, danach lasse ich Arme und Hände einen Moment lang locker hängen und wiederhole das Händereiben noch zweimal. Kein Chef, keine noch so komplexe Familiensituation kann mir verbieten, mich zu entspannen.
Eine gesunde Spiritualität zwischen Geborgenheit und Freiheit
Ein Ritual ist für mich, mir regelmäßig und bewusst einen Ort des Innehaltens, des Aufatmens zu schaffen, an dem ich tief ein- und ausatme, mich lockere. Ein Ritual ist der Moment, in dem ich mir wieder hole, was ich schon weiß. Training für ein achtsames Leben, damit ich mich nicht durch das Leben peitschen lasse, sondern mich der Kraft des Augenblicks anvertraue. Ein kraftvoller Moment der Erinnerung, dass das Wesentliche im Leben nicht machbar ist. Mein Beitrag genügt, es kommt auch auf mich an und hängt nie von mir alleine ab. Ein Ritual ist die Einladung, Erde und Himmel miteinander zu verbinden, indem ich meine Einmaligkeit dankbar spüre und zugleich erfahre, dass ich Teil eines größeren Ganzen bin. Ein Moment der Identitätsfindung, der Verwurzelung, in dem ich zu mir stehe und mich zugleich verbinde mit all den Menschen weltweit, die auch heute für Gerechtigkeit und Frieden einstehen. Ein Zeichen des Widerstandes, dem Leben zuliebe, für eine Welt, die anders werden kann, zärtlicher und gerechter. Ein heilender Moment, der mich ins Urvertrauen hineinholt, immer mehr zu sein als Erfolg und Scheitern, Gesundheit und Krankheit, Schwere und Leichtigkeit, Lachen und Weinen.
Ein Ritual ist ein spiritueller Moment, in dem Raum und Zeit wie aufgehoben erscheinen. Ich bin voll da und ganz weg, komme in Berührung mit Gott, der Quelle allen Lebens, erfahrbar in Beziehung, in Schöpfung und Kosmos. Ein Moment des Aufatmens, weil die Seele, das Lebendige in uns, aufatmen kann und wir alle Lebenserfahrungen zurückbinden können an den Urgrund aller Liebe, das Göttliche in allem. Natürlich können Rituale zu einer entleerten Gewohnheit, einem angstbesetzten Automatismus führen. Sie können in einer politischen Situation missbraucht werden, um andere Menschen auszugrenzen. Eine kritische Haltung gehört zu einer gesunden Spiritualität, die von Zustimmung und Unterscheidung, Nähe und Distanz, Geborgenheit und Freiheit lebt.
Auch die Gesellschaft braucht wieder ihre Balance
In unserer Welt mit ihrer Überfülle von Möglichkeiten (die ich nicht missen möchte), wird unsere Lebensqualität gefördert, wenn wir uralte Lebensweisheiten, wie das gesunde Maß, einüben und uns als Lebenshilfe aneignen. Rituale leben von der Kraft der Wiederholung, die jedoch nicht gegen das Spontane, Kreative, Spielerische ausgespielt werden darf. In einer Welt, in der wir immer mehr gelebt werden, kann die Regelmäßigkeit eines Rituals eine befreiende Entlastung sein. Zudem bestätigt uns die Hirnforschung in großer Klarheit, dass Verkrampfungsmechanismen (Schulter hoch, Bauch rein, Füsse weg vom Boden) im Körper als unbewusste Reflexe gespeichert sind. Sie lassen sich nur lösen durch ein beharrlichnliebevolles Üben. Eine verbissene Lebensgrundhaltung lockert sich erst nach etwa 1000-mal Üben. Deshalb ermutige ich als spiritueller Begleiter dazu, sich regelmäßig kleine Oasen des Innehaltens zu schaffen, die uns gut tun und auch zum Wohle der ganzen Gemeinschaft sind. Bei einem internationalen Zahnärztekongress wurde mit Besorgnis aufgezeigt, dass immer mehr Kinder nachts mit den Zähnen knirschen. Ein aufwühlendes Spiegelbild einer Gesellschaft, die ihre Balance verloren hat. Darum lohnt sich, auch unseren Kindern und Enkeln zuliebe, die Kraft der Rituale wieder zu entdecken und zu entfalten.