Die gefährlichste Reise der Welt
Die Migrantenherberge von Tenosique liegt vor den Toren der südmexikanischen Kleinstadt. Die "72" ist eine junge Herberge, erst vor vier Jahren ist sie entstanden, um den Reisenden Richtung Norden Zuflucht zu bieten. So jung wie diese Herberge sind auch ihre Bewohner. Rund zwanzig Kinder organisieren sich nach dem Frühstück zum Fangenspiel. Wer abgezählt wird, ist la migra, die Migrationspolizei. Die anderen streben kreischend auseinander. Viel zu nah kommt das Spiel der Kinder ihrer harschen Realität.
Vorbei sind die Zeiten, in denen sich ihre Väter aus Guatemala, El Salvador und Honduras auf den Weg in die USA machten, um Dollarscheine nach Hause zu schicken. Heute füllen Frauen, Babys, Heranwachsende und Weißhaarige die Migrantenherbergen in Mexiko. Die Männerasyle auf dem Weg nach Norden sind angesichts eines nie deklarierten Krieges zu Flüchtlingslagern geworden.
"Das Problem in Honduras ist die Gewalt"
"Das Problem in Honduras ist die Gewalt", konstatiert Elder, ein schlaksiger Junge. "Die Jugendbanden sind überall, da können wir nicht draußen sitzen und miteinander lachen, so wie hier. Sie sind genauso alt wie wir, aber töten für Geld." Erick Noe, Alexander und Saydi nicken zustimmend. Die Jugendlichen haben sich unterm Palmendach versammelt. Zum Fangenspielen sind sie zu alt; für das Kartenspiel der lautstarken Zwanzigjährigen im Essenssaal zu jung.
Viel zu jung sind sie auch für den Weg nach Norden auf den Dächern der Güterzüge. Eine der gefährlichsten Reisen der Welt. Saydi ist ein Kind, das zwei Kinder bei sich hat. Ihre Stimme ist hell und fein, ihre beiden Söhne kleine Wonneproppen, die die minderjährige Mutter im honduranischen La Ceiba zur Welt brachte.
Hoffnung auf eine bessere Zukunft in den USA
Saydi selbst hatte nie ein Zuhause. "Seit ich sieben bin, wasche ich Wäsche und putze." Ihre Söhne will sie jetzt in eine bessere Zukunft tragen. "Sie sollen in den USA aufwachsen. Da gibt es keine Jugendbanden und keine Armut. Vielleicht können sie eines Tages studieren", sagt Saydi und schaut auf den kleinen Rolan herunter, der in seiner Babyhand ein klebriges Milchbonbon verwahrt.
Andere halten sich scheu im Hintergrund, wie Cintia, die vor ihrem Ex-Freund flieht, der Bandenmitglied in Guatemala ist und sie und ihre Familie überwacht, auch wenn sie nicht mehr zusammen sind. Wie Francisco, der von der Mara gezwungen wurde, Autos zu stehlen. Mit seiner Flucht steht er auf der Todesliste der mächtigen Bande.
"Die Jugendbanden beherrschen Mittelamerika"
"Die Jugendbanden beherrschen Mittelamerika", erklärt Franziskanerbruder Aurelio Montero. Gemeinsam mit Fray Tomás González, der als Aktivist für die Rechte der Papierlosen Bekanntheit erlangte, leitet er die Herberge. "Die Maras sammeln von der Bevölkerung eine 'Kriegssteuer' ein." Wenn diese nicht gezahlt wird, verwandeln sich Kinder in einen Faustpfand. So wurden im honduranischen Yoro beispielsweise Eltern die zerstückelten Leichen ihrer Kinder vor die Tür gelegt.
"Viele Familien zögern nicht, über Nacht ihr Land zu verlassen, um ihre Liebsten zu retten", so Fray Aurelio. "Doch der Weg durch Mexiko ist ein Spießrutenlauf." Erneut treten die Maras auf den Plan, neben Kriminellen und Drogenkartellen, die rauben und entführen. Kinder und Jugendliche seien eine leichte Beute für das organisierte Verbrechen.
Asyl in Mexiko kaum möglich
Der amerikanische Traum wird davon in Frage gestellt. "Doch die Aussicht auf Asyl in Mexiko ist verschwindend gering", weiß der Ordensmann im braunen Gewand, auch wenn sich das Hauptherkunftsland Honduras nach dem Putsch von 2009 in einen "Drogenstaat" verwandelt hat. "Die Drogenkartelle stellen die Maras an, die das Land kontrollieren. Die Jugendlichen haben keine Chance." Fray Aurelio stützt sich auf seinen Stock, als er über das Herbergengelände geht. Überall wird gebaut, um den Ankommenden ein Dach über dem Kopf zu bieten. Das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat leistet finanzielle Unterstützung.
Während Kinder, Frauen und Männer in Tenosique auf den Güterzug warten, der sie Richtung Norden trägt, achtet ein paar Tausend Kilometer weiter nördlich niemand mehr auf das Pfeifen des Zuges. Wer es so weit in den Norden Mexikos geschafft hat, wird die Tagesreise zur Grenze im Bus bestreiten. Nicht jedoch, ohne sich vorher einen Coyoten, einen Schleuser, für den Grenzübertritt gesucht zu haben.
"Viele Kinder sind schon von Mittelamerika aus mit einem Coyoten gereist, den die Eltern von den USA aus bezahlen", berichtet Juan José Villagómez, der in der Migrantenherberge "Betlehem" von Saltillo arbeitet. "Dies ist die einzige Möglichkeit der Familienzusammenführung für Abertausende Migranten, die ohne Papiere in den Staaten leben."
Durch die Wüste
Andere wollen ihre Schützlinge gar nicht erst zurücklassen in Ländern, in denen sie keine Kindheit haben. So ist der 14-jährige Andy aus Honduras mit seiner Mutter und dem kleinen Bruder unterwegs. Seine Mutter hat Angst, mit den beiden Jungen die Wüste zu durchqueren. Auf zugänglicheren Pfaden jedoch ist die US-Border-Patrol, die Grenzpolizei, präsent. Herbergsmitarbeiter Villagómez weist darauf hin, wie viele Familien willkürlich von den US-Grenzern auseinandergerissen werden. "Es gibt kaum Familienunterkünfte, da werden Eltern und Kinder einfach getrennt." Somit blieben viele Minderjährige alleine in Haft, die eigentlich in Begleitung waren.
Monseñor Raúl Vera, der Bischof von Saltillo, findet klare Worte: "Es liegt nicht nur eine humanitäre, sondern auch eine ethische Krise vor." Die große Mehrheit der Menschen sei weltweit von Teilhabe an Reichtum, Gesundheit und Bildung ausgeschlossen. Die Migration der Kinder sei ein Zeichen für die vorherrschende Ungleichheit und Gewalt. Der weißhaarige Mann spricht von der Notwendigkeit, in Mexiko Flüchtlingsstätten zu schaffen, wo Kinder in Würde aufwachsen können.
USA baut neue Abschiebegefängnisse
Doch stattdessen werden neue Abschiebegefängnisse gebaut. Wie im US-amerikanischen Bundesstaat Texas. "Es ist traurig, den harschen Rassismus im Land der Einwanderer zu spüren", sagt Bischof Kevin Farrell, der der Diözese Dallas vorsteht und als Fürsprecher der Geflüchteten aus Mittelamerika gilt. "Menschen protestieren diese Tage so zornig vor Unterkünften mit Kindern, als wären diese Verbrecher."
Der texanische Gouverneur Rick Perry schickte im Sommer die Nationalgarde an die Grenze. Doch die Kinder aus Mittelamerika sollen in Zukunft gar nicht mehr so weit kommen. Mit US-Geldern soll Mexiko die eigene Südgrenze zum Bollwerk gegen ihre Flucht ausbauen. "Dass Mauern auf dieser Welt zu nichts anderem gut sind, als Familien auseinanderzureißen, muss ich in Deutschland doch niemandem erklären, oder?", schließt Bischof Farrell seufzend.
Von Kathrin Zeiske