Religionswissenschaftler über Rituale und den Alkohol

Rausch und Religion: Ist es etwas Mystisches?

Veröffentlicht am 30.12.2017 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Silvester

Leipzig ‐ "Prost Neujahr", heißt es bald wieder – und die Korken knallen. Wie kommt es, dass Rausch und Ritual so nah beieinander sind? Und was hat die Religion damit zu tun? Ein Religionswissenschaftler gibt Auskunft.

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"Prosit Neujahr" heißt es beim Wechsel vom 31. Dezember auf den 1. Januar. Woher kommen derlei Rituale, was hat der Alkohol dabei zu suchen und geht es womöglich gar um Höheres? Zeit für einen Anruf bei Religionswissenschaftler Peter Johannes Bräunlein. Der Forscher lehrt in Leipzig und hat sich - unter anderem - mit dem Thema "Religion und Rausch" beschäftigt. Im Interview schlägt er einen Bogen von der Vorgeschichte bis zur Moderne.

Frage: Herr Professor Bräunlein, mit einem Sektglas in der Hand und einem "Prosit Neujahr" auf den Lippen wechseln auch diesmal nicht wenige Zeitgenossen ins neue Jahr. Das Ritual hat fast schon etwas Religiöses, oder?

Bräunlein: Es hat mit Religion aber nichts zu tun. Im Gegenteil: Der Brauch ist höchst profan und entstammt vermutlich der studentischen Trinkkultur des frühen 18. Jahrhunderts.

Frage: Trotzdem - zwischen Religion und Rausch scheint es seit altersher gewisse Zusammenhänge zu geben.

Bräunlein: Rauscherfahrungen gehören zu unserer Geschichte, sowohl zu unseren individuellen Geschichte, aber auch zur Menschheitsgeschichte. Allerdings fühlen sich die meisten Menschen recht wohl in ihrer Haut, wenn sie wissen, wo oben und unten ist, und dass der Schrank kein Monster ist, der ihnen irgendwas Rätselhaftes verkünden möchte.

Frage: Klingt sehr nüchtern...

Bräunlein: ... aber es gibt auch Menschen, die Zweifel haben, ob ihre Alltagswirklichkeit die letztgültige ist, und die dann auf Entdeckungsreise gehen, um unbekannte Bereiche ihres Bewusstseins zu erkunden. Das hat durchaus etwas mit einem Bedürfnis nach mystischer Erfahrung, nach Spiritualität zu tun - wobei ich direkt zwei Einwände machen möchte.

Frage: Welche?

Bräunlein: Zum einen fehlen uns für lange Phasen der Kulturgeschichte die Quellen, um konkrete Bezüge zwischen Religion und Drogen präzise zu erörtern.

Frage: Was ist denn zum Beispiel mit der Hochzeit zu Kana, wo Jesus Wasser in Wein verwandelt? Ganz zu schweigen vom Letzten Abendmahl.

Bräunlein: Juden und Christen schätzten den Wein. Und es ist in der Tat bemerkenswert, dass das erste Wunder Jesu mit Alkohol zu tun hat. Aber der diente nicht dazu, um irgendeine Heilserfahrung zu machen oder das Bewusstsein zu erweitern. Alkohol - in Maßen genossen - war eine Sache der Geselligkeit, des gemeinsamen Feierns, der Lebensfreude.

Ein Mann hat in beiden Händen und auf dem Rücken volle Eimer mit Trauben. Er läuft zwischen den Sträuchern im Weinberg.
Bild: ©Fotolia.com/Dieter Hawlan

Der Wein spielt sowohl Im Judentum als auch im Christentum eine große Rolle.

Frage: Sie sprachen eben von zwei Einwänden.

Bräunlein: Der zweite Einwand betrifft den Rauschbegriff als solchen. Das Wort nimmt ja erst im 16. Jahrhundert die Bedeutung an, die wir heute damit verbinden. Also einen Kontrollverlust, namentlich Trunkenheit infolge von übermäßigem Alkoholgenuss. Im Mittelhochdeutschen rauschten dagegen nur die Blätter oder das Wasser.

Frage: Wie kam es zu dieser Bedeutungsverschiebung?

Bräunlein: Unter anderen durch Schriftsteller wie Sebastian Brant. In seinem "Narrenschiff" schildert er Ende des 15. Jahrhunderts ausführlich die Torheiten des menschlichen Gemüts und der Seele. Trunkenheit wird verurteilt, weil sie Vernunft und Sinn zerstört.

Frage: Wenig später kam es zur Reformation. Lässt sich daraus ein Zusammenhang mit dem zunehmend kritischen Blick auf den Alkohol herstellen?

Bräunlein: Dem Protestantismus wird ja immer zugeschrieben, dass er zu einer Disziplinierung des Menschen beigetragen hat. Insofern ist da durchaus eine Spur gelegt. Wobei Reformator Martin Luther keineswegs gegen Bier-und Weinkonsum als solchen war.

Frage: Bier war ein Grundnahrungsmittel in jenen Tagen.

Bräunlein: Angesichts der mangelhaften Wasserqualität nimmt dass nicht weiter Wunder. Was die Reformatoren anprangerten, war übermäßiger Genuss, Sauferei. Bei diesem Kampf taten sich vor allem Johannes Calvin und Huldrych Zwingli hervor.

Frage: Inwiefern?

Bräunlein: Calvin hat in Genf alle Wirtshäuser schließen lassen und "Abteien" eingerichtet.

Frage: Abteien?

Bräunlein: Die hießen tatsächlich so. Das waren so etwas wie Clubs oder Casinos, die die lärmigen Gaststuben um die Ecke ersetzen sollten. Dort wurde hauptsächlich gebetet. Trinken durfte man wohl auch, aber nur bis neun Uhr abends. Ähnlich hielt das Zwingli in Zürich.

Linktipp: Wacht auf, ihr Betrunkenen!

Erst der Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt, dann Wein an den Feiertagen: Die Wochen am Jahresende sind nicht unbedingt für Abstinenzler gemacht. Doch wie steht eigentlich die Kirche zum Thema Alkohol?

Frage: Wie fand Luther so etwas?

Bräunlein: Luther widersetzte sich solcher Reglementierung aus der Erkenntnis heraus, dass freudiges Leben und Geselligkeit mit zum Menschsein gehören. In Eigenbrötlerei oder anhaltender Traurigkeit sah er eine Versuchung. Luthers Gegner war nicht der Alkohol, sondern der Teufel.

Frage: Wie ging es weiter in Sachen Alkohol?

Bräunlein: Im 19. Jahrhundert kam es in Europa und Amerika zu den großen Antialkohol-Kampagnen. Die Industrialisierung und eine Auflösung der herkömmlichen gesellschaftlichen Strukturen hatten den Alkohol zur Zivilisationsdroge Nummer eins gemacht. Und mit entsprechender Sorge beobachteten Kritiker, wie immer mehr Zeitgenossen ihre Nöte in Branntwein und Co ertränkten. Alkohol galt als Teufelszeug - ähnlich wie unter manchem Reformator.

Frage: Verteufelt wird der Alkohol aber auch anderswo. Im Islam ist er verboten.

Bräunlein: Das Alkoholverbot wird dort mit Koran-Versen begründet. Allerdings gibt es eine beachtliche mystische Lyrik, in der Wein und Rausch einen Weg zur Annäherung an Gott beschreiben. Das sind poetische Metaphern und ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit dem tatsächlichen Konsum von Wein. Interessanterweise sind im Paradies Flüsse von Milch, Honig und Wein zu finden. Der Paradieswein wirkt jedoch nicht berauschend.

Frage: Die Weltreligionen hielten also eher Abstand von Drogen. Was ist mit den kleineren Glaubensgemeinschaften?

Bräunlein: Bei vielen indigene Religionen des amerikanischen Kontinents ist der Konsum von halluzinogenen Substanzen durchaus Bestandteil der religiösen Praxis. In der Moderne gibt es Versuche, diesen ritualisierten Gebrauch zu institutionalisieren.

Frage: An wen denken Sie?

Bräunlein: Zum Beispiel an die 1918 gegründete Native American Church in Nordamerika. Dort wird der Peyote-Kaktus rituell verwendet. Er enthält Mescalin. Trotz anfänglicher Widerstände ist es gelungen, diese Religion im Religionspluralismus der Vereinigten Staaten zu etablieren.

Frage: Wie schaut es in Südamerika aus?

Bräunlein: Dort fällt mir Ayahuasca ein. Das ist ein Sud aus Lianenpflanzen und Blättern eines Kaffeestrauchgewächses. Ursprünglich nutzten diesen Trank Amazonasvölker an den Hängen der Anden, um dadurch einen veränderten Bewusstseinszustand zu befördern. Seit den 1970er-Jahren reisen westliche Touristen gezielt dorthin, oftmals in der Hoffnung, sich selbst zu finden und innere Krisen zu bewältigen. Dabei sind Substanzen wie Ayahuasca heute auch problemlos über das Internet zu erhalten.

Frage: Die Gesetze der Globalisierung greifen auch bei Drogen.

Bräunlein: Trotzdem wissen wir noch viel zu wenig über sie. Und die Aufklärung über Drogen, wenn sie denn stattfindet, pauschalisiert allzu häufig. Zwischen Crystal Meth und Ayahuasca liegen Welten. Und obwohl es eine wachsende Bewegung gibt, die den therapeutischen Gebrauch von ganz bestimmten Drogen wertschätzt, etwa bei Sterbehilfe oder in der Psychotherapie, wagen wir uns nicht so recht an das Thema ran.

Frage: Warum ist das so?

Bräunlein: Vielleicht, weil wir da noch in dem herkömmlichen Rauschbegriff gefangen sind, der Sinnesverwirrung, Desorientierung und Zerstörung der Vernunft assoziiert. Da schimmert in gewisser Weise das Erbe von Protestantismus und Aufklärung durch. Drogen und Rausch machen uns Angst.

Von Joachim Heinz (KNA)