Die unsichtbaren Geschwister
An ihrer Zahl kann es nicht liegen. Allein in Baden-Württemberg gibt es rund 140 ostkirchliche Gemeinden, über diese christlichen Nachbarn wissen ihre katholischen wie evangelischen Glaubensgeschwister aber dennoch kaum etwas. "Eines ihrer größten Probleme ist ihre Unsichtbarkeit", sagt Vladimir Latinovic, der die Gemeinden fast alle besucht hat. Der trotz seiner vierzig Jahre immer noch überraschend jugendlich wirkende Mann zieht eine nüchterne Bilanz seiner ausgedehnten Kirchentour: "Die Gemeinden wollen Kontakt haben, aber sie wissen alleine nicht, wie sie ihn schaffen können. Was ihren Glauben angeht, leben sie komplett isoliert."
Der promovierte Kirchenhistoriker soll das jetzt ändern. In der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart leitet er ein Projekt, das zwischen den Kirchen des Ostens und denen des Westens in Deutschland für mehr Verständnis sorgen soll. Leicht ist das nicht, denn ihre gesellschaftliche Isolation ist nicht das einzige Problem der Ostchristen. Zusätzlich sind auch die theologischen Differenzen zwischen Ost und West nach wie vor unverkennbar.
So könnte es aus orthodoxer Sicht bereits schwer werden, überhaupt die für ein gleichberechtigtes Gespräch nötige gleiche Augenhöhe einzunehmen. "Besonders die orthodoxen Kirchen", analysiert Latinovic, "verstehen sich oft noch als die einzige Kirche Christi. Sie wollen deshalb mit anderen Kirchen wenig zu tun haben, im extremen Fall identifizieren sie sie noch nicht einmal als Kirchen."
Selbstverständnis als Hindernis
Mag diese stolze Position in den Ursprungsgebieten der östlichen Kirchen zwar nicht gerade von ökumenischem Geist zeugen, aber dort angesichts einer reichen Glaubenstradition noch verständlich erscheinen, so ist jeder orthodoxe Alleinvertretungsanspruch in Deutschland ein echtes Hindernis für kirchliches Leben und Überleben. Ihr Selbstverständnis hat die Ostkirchen im Westen in eine Randposition geführt, die noch dadurch verstärkt wird, dass Orthodoxe und Orientalen auf viele gesellschaftliche Fragen von der Stellung der Frau bis zur gleichgeschlechtlichen Liebe nur höchst konservative Antworten zu geben wissen.
Vladimir Latinovic, der sich nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen Lebensgeschichte als Brückenbauer versteht, ist dennoch optimistisch, dass es auf lange Sicht zu mehr Ökumene kommen wird. Er verweist dafür auf ein schlagendes Beispiel: "Vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat auch die römisch-katholische Kirche ein anderes Selbstverständnis gehabt. Das dauert einfach ein bisschen, bis sich auf diesem Gebiet etwas tut."
In vielen Gemeinden sind kleine Schritte zur Veränderung allerdings bereits sichtbar. Bewegung ergibt sich schon allein daraus, dass die deutsche Sprache zunehmend die eigenen Sprachen der nationalen Kirchen ersetzt. Mit Freude stellt Latinovic hier eine Entwicklung fest, die die Integration der Ostkirchen verbessern könnte: "Es gibt jetzt junge orthodoxe Priester, die anfangen, in der Liturgie Deutsch zu verwenden. Dass die Deutsche Bischofskonferenz jüngst offizielle Übersetzungen hierfür herausgegeben hat, ist dabei sehr hilfreich."
Die östlichen Kirchen beginnen damit auf einen Generationenwechsel zu reagieren, der für ihren Fortbestand sonst durchaus gefährlich werden könnte. Latinovic nennt ein Beispiel aus seiner eigenen Gemeinde: "Wenn wir das 'Vater unser' auf Griechisch beten, sind es vornehmlich die alten Menschen, die mitbeten. Wird es dagegen auf Deutsch gesprochen, hört man eher die Stimmen von Kindern. Für die ist nämlich Deutsch die erste Sprache, Griechisch können sie manchmal gar nicht mehr."
Richtungswechsel bei den Katholiken
Halten Kirchen am ausschließlichen Gebrauch der ehemaligen Muttersprachen fest, arbeiten sie einer Integration ihrer Gläubigen in die deutsche Gesellschaft entgegen. Eine solche Integration als Ergänzung – und keinesfalls als Ersatz – orthodoxer Traditionen zu fördern, dafür ist aber Vladimir Latinovic mit seinem Projekt angetreten. Zunächst in Baden-Württemberg gestartet, soll es sich später auf das gesamte Bundesgebiet ausdehnen und die orthodoxen und altorientalischen Kirchen dabei unterstützen, ihre vornehmlich ehrenamtlichen Strukturen zu stärken. Wichtiger Teil dieser Arbeit wird unter anderem die Einrichtung einer eigenen Website sein, die sowohl die Kommunikation untereinander als auch die Wahrnehmbarkeit von außen verbessern soll.
Für die katholische Kirche markieren derartige Hilfsprojekte einen überfälligen Richtungswechsel. Hatte sie doch bis ins 20. Jahrhundert hinein noch versucht, durch innerchristliche Missionsarbeit namentlich die orthodoxen Kirchen wieder auf römischen Kurs zu bringen. Heute engagiert sie sich dagegen mit Rat und Tat, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten oder gar auf eine kirchliche Wiedervereinigung zu ihren Bedingungen zu schielen.
Auszahlen könnte sich dieses Engagement dennoch, und zwar für die gesamte Gesellschaft. Gerade der Aufwand, mit dem versucht wird, aus dem Orient nach Deutschland geflüchtete Christen hier nun auch "ankommen" zu lassen, könnte in einem zweiten Schritt nämlich zu einer sozialen Befriedung führen, wie sie ohne eine Verständigung zwischen den Religionen und Kulturen kaum zu erreichen ist. Vladimir Latinovic hebt dafür die andere Seite eines nicht nur von ihm diagnostizierten christlich-muslimischen Konfliktpotentials hervor: "Die altorientalischen Christen können sehr wohl auch eine Brücke zu den Muslimen bilden. Sie teilen schließlich mit den meisten Menschen hier in Deutschland dieselbe Religion und mit den Muslimen dieselbe Kultur." In der Wirtschaft würde man so etwas eine "Win-Win-Situation" nennen.