"Es treibt sie in den Wahnsinn"
In seltenen, ganz schlimmen Momenten denke er auch an Selbstmord, sagt Fared E. leise. Aber das könne er nicht machen. "Ich muss doch kämpfen", so der Syrer, der seinen vollständigen Namen nicht nennen möchte. Kämpfen für seine Familie. Seine Frau und die zwei Söhne, die erst fünf und sieben Jahre alt sind. Längst sollten sie nicht mehr in Syrien sein, sondern in Deutschland mit ihm zusammen - in Sicherheit.
Fared E. sitzt in der Fürstenwalder Sozialberatung der Caritas. Sein Blick geht geradeaus, irgendwo ins Leere. In den Händen hält er fest umklammert, was seinen Alltag in Deutschland bestimmt: eine Dokumentenmappe mit Nachweisen aus seiner syrischen Heimat, Anträgen auf Asyl, Ablehnungen, einer Klage dagegen. Und drei Seiten über sein Leben seit der Flucht, geschrieben auf Deutsch in ungelenker Handschrift - die lateinischen Buchstaben sind immer noch unvertraut, grammatikalisch nicht immer ganz richtig, aber doch so gut verständlich - und bedrückend. Die Sorge um seine Familie im Kriegsgebiet Syrien treibt ihn um. Weil er als Flüchtling nur unter subsidiärem Schutz steht, kann er sie vorerst nicht nachholen.
Sehr viel Pech
Fared E. hat viel Pech gehabt, sehr viel Pech. Dabei sah zunächst alles so gut aus: Die gefährliche Flucht aus Syrien im Sommer 2015 überstand er gut. Über die Balkanroute kam der heute 31-jährige gelernte Schneider ins brandenburgischen Eisenhüttenstadt. Von dort wurde er nach Fürstenwalde geschickt. Er beantragte Asyl. Der Termin für die Anhörung sollte am 28. September 2015 sein. Sie fand aber nicht statt. Wie so oft hatte die zuständige Stelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge mehr Asylbewerber einbestellt, als die Mitarbeiter anhören konnten. Anders als sonst kamen an diesem Tag alle Eingeladenen. Da die Anhörung von Fared E. an das Ende gelegt war, blieb dafür keine Zeit mehr.
Noch war er guten Mutes, hakte nach, nochmal und nochmal. Acht Anfragen startete er insgesamt - die Daten hat er sauber notiert - erst ein Jahr später kam die Anhörung schließlich zustande. Doch die Bundesregierung hatte inzwischen beschlossen, dass nicht mehr alle Syrer automatisch den vollen Flüchtlingsschutz bekommen sollten, sondern wieder in jedem Einzelfall die individuellen Fluchtgründe geprüft werden müssen. Fared E. erhielt nur "subsidiären Schutz". Mit diesem Status, so wurde ihm damals klar, kann er seine Familie nicht ohne weiteres nachholen. Denn auch der Familiennachzug war zu diesem Zeitpunkt wieder eingeschränkt.
Irgendwann in dieser Zeit begann Fared E., die Welt nicht mehr zu verstehen: Er habe schon in seinem Heimatland unter dem Regime unter Ungerechtigkeiten gelitten, schreibt er in seinen Unterlagen. Warum ihm das hier im Rechtsstaat Deutschland wieder passiere, verstehe er nicht. Nach einem Herzinfarkt musste er schließlich ins Krankenhaus. Ihm hilft sein Glaube: Der Syrer ist Muslim und betet jeden Tag fünf Mal. Wenn er nicht schlafen kann, liest er im Koran.
Gegen seinen Bescheid hat er inzwischen Klage beim Verwaltungsgericht in Frankfurt/Oder eingereicht. Dort liegt sie inzwischen eineinhalb Jahre. Wann über sein Verfahren entschieden wird, weiß er nicht. Das Gericht könne darüber keine Auskunft geben, so dessen Pressesprecher. Es gebe auch noch Fälle aus dem Jahr 2015. Das Land Brandenburg habe viel zu wenige Verwaltungsrichter.
Viele weitere Fälle in der Beratungsstelle
Thomas Thieme von der Caritas-Beratungsstelle in Fürstenwalde, der den Syrer betreut, kennt noch viele weitere Asylsuchende, die darum kämpfen, ihre Familie nachzuholen. Da ist eine Klientin aus Afghanistan, die alles daran setzt, dass ihre beiden Kinder nach Deutschland kommen können. Der Vater der Zehn- und Zwölfjährigen ist verschollen. Oder die Frau aus Kamerun, deren Kinder derzeit in ihrem Heimatland auf der Straße leben, weil der Vater sich nicht mehr um sie kümmert.
"Wir versuchen, ihnen zu helfen", betont Thieme. Beim Ausfüllen von Anträgen, beim Formulieren von Anfragen an Behörden oder Gerichten, beim Mutzusprechen, wenn alles hoffnungslos scheint. "Die Menschen verzweifeln und leiden unglaublich. Die Ungewissheit, wie es der Familie geht und wann sie nachkommen kann, kann Menschen in den Wahnsinn treiben." Auch für ihn und seine Kollegen ist das schwer zu ertragen. Politiker, die sich weiter für die Aussetzung des Familiennachzugs aussprechen, sollten mal mit diesen Menschen sprechen, wünscht Thieme sich.
Die Bundesregierung hatte den Familiennachzug 2015 generell erlaubt, ihn aber im März 2016 für zwei Jahre für die nur subsidiär geschützten Flüchtlinge ausgesetzt. Ursprünglich sollte diese Aussetzung am 16. März enden, aber Anfang Februar verlängerte der Bundestag die Aussetzung für ein weiteres halbes Jahr. Ab 1. August dürfen dann monatlich 1.000 Familienangehörige nachkommen. Dazu kommt eine Härtefallregelung.
Nach Schätzungen handelt es sich bei den bislang in Deutschland lebenden Flüchtlingen mit eingeschränktem Schutzstatus um bis zu 60.000 Angehörige, die insgesamt nachkommen könnten. Eigentlich eine überschaubare Zahl, so meinen die Grünen, die Linken, aber auch Wohlfahrtsverbände wie die Caritas und die Kirchen. Sie sind gegen die Aussetzung. Sie verstoße "gegen den verfassungs- und völkerrechtlich garantierten besonderen Schutz der Familie", so meint etwa der Leiter des Katholischen Büros in Berlin, Prälat Karl Jüsten.
Fared E. will nicht aufgeben. Trotz der belastenden Situation - inzwischen hat sein ältester Sohn einen Leistenbruch, kann aber nicht operiert werden - hat er Deutsch gelernt und wartet nun auf die Ergebnisse des B 2 Kurses, nachdem er den Vorgänger-Kurs mit Bestnoten bestanden hat. Er will weiterlernen und unbedingt arbeiten. Caritas-Mitarbeiter helfen ihm, Bewerbungen zu schreiben und vielleicht eine Arbeit als Servicekraft in einem Hotel zu finden. Er kann nicht nur darauf warten, dass sein Prozess endlich beginnt. Wenn er genug verdient und nachweisen kann, dass er seine Familie ohne Sozialleistungen unterhalten kann, kann er sie nachholen.