Plädoyer für einen aufgeklärten Glauben
Auf 96 Seiten erwartet den Leser nach dem Ausrufezeichen aber nicht der erhobene Zeigefinger eines Erzbischofs, sondern eine persönliche Bestandsaufnahme des eigenen Glaubensweges - wird er doch am 21. September 60 Jahre alt.
"Für mich ist der Schritt zum Glauben ein Schritt in eine größere Freiheit, er birgt ein erweitertes Blickfeld und eine intensivere Lebensmöglichkeit in sich", notiert der Kardinal. Doch Glaube sei auch eine immer neue Gabe, eine existenzielle Erfahrung. Deshalb müsse er in seiner Tradition und Aktualität im Gespräch bleiben oder neu ins Gespräch gebracht werden.
Dabei gehöre der Zweifel stets dazu. Seine Gedanken versteht der Kardinal als "Einladung zum Glauben", denn auch ein Philosoph wie Jürgen Habermas stelle die Frage, ob in einem Leben ohne Glaube und Religion nicht doch etwas fehle.
Grau ist alle Theorie
Grau ist alle Theorie, deshalb gehört die Praxis zum Glauben dazu. Naturwissenschaftliche Beweise für Transzendenz und für die Existenz Gottes könnten nicht erbracht werden, räumt Marx ein. Doch es wäre zu einfach, daraus den Schluss zu ziehen, damit sei die Sache schon erledigt. "Es gibt vernünftige Menschen, die glauben, und vernünftige Menschen, die nicht glauben." Für viele entscheide sich die Gottesfrage in der Erfahrung ungerechten Leidens. Jeder arbeite sich auf seine Art daran ab, eine Erklärung zu finden, warum Gott Leid in der Welt zulasse.
"Jeder, auch ein Bischof, erlebt Anfechtungen, Zweifel und Phasen, in denen sich Gott scheinbar verbirgt", bekennt der Gottesmann. Auch er selbst hat schon "hilflose Situationen" erlebt, etwa im Jahr 2010, inmitten der Diskussionen um Missbrauch in der katholischen Kirche. "Ich kann mich an einen Abend erinnern, an dem ich wirklich nicht mehr wusste, was in unserer Kirche los ist." Schließlich brachte er als Gebet nur noch die Worte "Jesus von Nazaret!" über die Lippen.
Auf die Frage "Wozu mein Leben?" sei der Glaube für ihn ein Mehrwert, betont Marx. Er eröffne ihm Antworten und Denkmöglichkeiten, die ohne Glauben nicht gegeben seien. Daraus wird verständlich, warum sich der Theologe 1996 als ernannter Weihbischof von Paderborn jenen Paulus-Satz aus dem Zweiten Korintherbrief als Wahlspruch ausgesucht hat: "Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit." Zu dieser Freiheit gehört jedoch das Infragestellen. Denn sonst bleibe ein zu selbstsicherer und ideologischer Glaube. Dieser sei aber unfähig zum Dialog und lasse kritische Fragen nicht zu.
"Glaubwürdig" sein
Der christliche Glaube habe das Miteinander von Glaube und Vernunft immer stark gemacht, resümiert der Kardinal. Als Präsident der Kommission der EU-Bischofskonferenzen (COMECE) weiß er sich auch in den politischen Streit einzubringen. Im Zusammenhang mit der Debatte um den Gottesbegriff in der Präambel der EU-Verfassung lautete sein Vorschlag damals: Wichtiger wäre es, wenn dort stünde "Wir sind nicht Gott!" Dadurch würde niemand in einen Glauben hineingezwungen und doch werte deutlich, dass der Mensch eine Grenze habe.
Wer den Glauben weitertragen wolle, müsse auch "glaubwürdig" sein, ansonsten werde das Zeugnis verdunkelt, mahnt Marx. "Allerdings genügt die Kirche nicht immer diesem Anspruch", gibt er zu. Er weiß aber auch: "Man kann nicht allein glauben." So sei sein Buch auch nicht in der Einsamkeit, sondern im Austausch mit anderen entstanden, auch mit jenen, denen es schwerfalle zu glauben: "Gemeinschaft und Kommunikation sind ganz wesentliche Bestandteile meines Glaubens-Abenteuers."
Von Barbara Just (KNA)
Hinweis: Das Buch "glaube! von Reinhard Marx ist im Kösel-Verlag München erschienen, hat 96 Seiten und kostet zehn Euro.