Papst-Brief war "Schock" für chilenische Bischöfe
Mit dem Brief von Papst Franziskus hatten die chilenischen Bischöfe anscheinend nicht gerechnet. Bei ihrer 115. Vollversammlung im beschaulichen Badeort Punta de Tralca, etwa 100 km von der Hauptstadt Santiago entfernt, wollten die Oberhirten eigentlich über angenehme Themen reden: Der diesjährige nationale Eucharistische Kongress und ein Treffen mit einem Minister der neuen Regierung standen auf der Tagesordnung. Doch stattdessen wurde das Bischofstreffen ab Dienstagnachmittag vom Brief des Papstes und seiner Einladung in den Vatikan bestimmt. Teilnehmer der Vollversammlung berichteten von einem regelrechten "Schock" bei den Bischöfen.
"Wir haben nicht genug dagegen getan."
Von Franziskus hatten sie eher eine Mitteilung über die Annahme von altersbedingten Bischofsrücktritten erwartet, eventuell auch den des umstrittenen Bischofs von Osorno, Juan Barros. Damit wäre der 'Fall Barros' beendet gewesen. Aber die Order zum baldigen Antritt des gesamten Episkopats beim Papst soll die 33 Mitglieder der Bischofskonferenz mit offenen Mündern zurückgelassen haben, berichten chilenische Medien. Offiziell begrüßten die Bischöfe den Papstbrief jedoch. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Militärbischof Santiago Silva, sprach beim Thema Missbrauch von "großer Scham" und gab sich selbstkritisch: "Wir haben nicht genug dagegen getan." Doch er betonte, man habe Franziskus alle verfügbaren Informationen zukommen lassen.
Die Überraschung über den Inhalt des Papstbriefs war wohl auch so groß, da das Treffen im Vatikan mit großen Veränderungen und Konsequenzen für die Kirche in Chile verbunden sein wird. Nicht umsonst hat der Papst alle Bischöfe des Landes zu sich zitiert. Franziskus hat sich nach der Durchsicht des Berichtes seines Sonderermittlers Erzbischof Charles Scicluna zum Missbrauchsskandal um den Priester Fernando Karadima nicht für eine einfache Lösung des Problems entschieden. Er hätte Barros und die Bischöfe Tomislav Koljatic (Linares) und Horacio Valenzuela (Talca), ebenfalls Karadima-Vertraute, zu den Schuldigen bei der Missbrauchsvertuschung erklären und ihre Absetzung fordern können. Doch das tat Franziskus nicht, worauf die in der Kritik stehenden Geistlichen in Punta de Tralca mit sichtlicher Entspannung reagiert haben sollen.
Was der Papst von den Bischöfen möchte, macht er in seinem Brief deutlich: Das Treffen im Vatikan solle "ein brüderlicher Moment, ohne Vorurteile oder vorgefasste Ideen" sein. Der Pontifex will "die Wahrheit aufleuchten" lassen, auch im Leben seiner Mitbrüder. Was diese pastoral klingenden Worte konkret bedeuten, lässt sich wohl erst nach den Gesprächen im Vatikan sagen, die in der dritten Maiwoche stattfinden sollen. Doch Franziskus schreibt in seinem Brief auch von Konsequenzen: Er macht deutlich, dass er von den chilenischen Bischöfen Unterstützung erwartet für "die Maßnahmen, die auf kurze, mittelfristige und lange Sicht angewandt werden müssen". Sie sollen zur "Wiederherstellung der kirchlichen Gemeinschaft in Chile" dienen und "soweit möglich den Skandal wiedergutmachen sowie Gerechtigkeit herstellen". Das klingt schon wesentlich durchgreifender.
Die chilenischen Bischöfe gehen davon aus, dass der Papst mit allen persönlich reden werde. Das jedenfalls sagte Juan Ignacio González, der Bischof von San Bernardo. Er rechnet mit Konsequenzen nach dem Bericht des päpstlichen Sonderermittlers über seine Nachforschungen in Chile. Wenn der Papst ihn oder einen anderen Bischof "zum Wohle der Kirche in Chile" zum Rücktritt auffordere, "werden wir das tun", zeigt sich González bereit. Für den einflussreichen Jesuitenpater Felipe Berríos ist das zu wenig: "Es reicht nicht, Personen zu entfernen", man müsse auch sehen, was hinter dem System der Missbrauchsvertuschung in Chile gestanden habe. Der Armenpriester spricht sogar von einer klerikalen "Mafia", die durch die lediglich kircheninternen Ermittlungen ermöglicht werde. Er sieht Franziskus dieses Problem "sehr spät" angehen und wünscht sich eine umfassende Modernisierung der Kirche.
Dass der Papst im 'Fall Barros' eine Kehrtwende vollzogen hat, nachdem er den Bischof von Osorno noch während seiner Chile-Reise verteidigt hatte, wird im katholischen Andenstaat begrüßt. Ex-Präsidentin Michelle Bachelet lobte ihn für seinen neuen Kurs: "Mit seinen Worten beginnt ein Weg der Vergebung und der Wiedergutmachung für die Opfer", schrieb die Politikerin auf Twitter. Viele Medien stellen sich die Frage, wer dem Papst falsche Informationen über Barros und seine Verwicklung in den Missbrauchsskandal hat zukommen lassen. Der spanische Vatikan-Journalist José Manuel Vidal hält den emeritierten Erzbischof von Santiago, Kardinal Francisco Javier Errázuriz für einen der Schuldigen. Errázuriz sei als Mitglied des K9-Rates einer der wichtigsten Ratgeber des Papstes und sehe ihn regelmäßig bei den Sitzungen. Der Journalist der Nachrichtenseite 'Religión Digital' geht davon aus, dass der Kardinal den Papst regelmäßig mit Informationen über Chile und auch über Barros versorgt hat. Errázuriz streitet das vehement ab. Er habe Franziskus keine Details über sein Heimatland zukommen lassen. Dies sei eine Aufgabe der Ortsbischöfe und besonders des päpstlichen Nuntius in Chile, Erzbischof Ivo Scapolo. Der Italiener ist bereits seit 2011 Papst-Botschafter in Chile.
Papst trifft sich erneut mit Missbrauchsopfern
Chilenische Medien gehen deshalb davon aus, dass eine der personellen Konsequenzen des Bischofstreffens im Vatikan die baldige Ernennung eines neuen Nuntius für Chile sein wird. Zudem werden Bischofsrücktritte erwartet. Barros soll dem Papst angeboten haben, auf seinen Bischofsstuhl zu verzichten – bereits zum dritten Mal. Die ersten beiden Rücktrittangebote vor der Ernennung zum Bischof von Osorno hatte Franziskus abgelehnt. Nun wird er seine Demission wohl annehmen, da Sonderermittler Scicluna dem Papst geraten haben soll, dies zu tun. Santiagos derzeitiger Kardinal Ricardo Ezzati steht wegen seines Verhaltens im Missbrauchsskandal in der Kritik. Er hatte anlässlich seines 75. Geburtstags vor kurzem seinen Rücktritt angeboten. Würde Franziskus dieses Angebot annehmen, wäre das ein klares Zeichen, denn normalerweise bleiben Kardinäle mindestens bis zur Vollendung ihres 80. Lebensjahres im Dienst.
Von den eigentlich Leidtragenden der Vertuschungsaffäre, den Missbrauchsopfern, hört man bislang wenig zum Brief des Papstes. Einige Opfervertreter begrüßen die Initiative des Papstes und erhoffen sich eine grundlegende Erneuerung der Kirche in Chile. Franziskus hatte in seinem Schreiben angekündigt, ebenfalls im Vatikan mit einigen Opfern zusammenkommen zu wollen – bereits vor seinem Treffen mit den chilenischen Bischöfen. Sie wollen dem Papst Ratschläge geben, wie sich die Kirche in Chile erneuern kann. Was er davon letztlich beherzigt, wird sich im Mai zeigen.