Diese Frau wacht über Münster
Langsam, vorsichtig, fast schon bedächtig erklimmt Martje Saljé Stufe um Stufe. Die junge Frau mit den kurzen roten Haaren und den riesigen grünen Ohrringen hält sich dabei am dünnen Geländer der steilen Wendeltreppe fest. Doch trotz des Halbdunkels setzt sie jeden Schritt sicher und routiniert. Kein Wunder, denn Saljé ist seit mehr als vier Jahren die Türmerin der St.-Lamberti-Kirche in Münster. "Als ich angefangen habe, bin ich die Treppe zu schnell hochgegangen. Dann wurde mir schon mal schwindelig", sagt die 37-Jährige. Ein kleiner Edelstein blitzt auf einem ihrer Zähne, als sie über den Anfängerfehler lacht. 300 Stufen sind es insgesamt, die von der kleinen Eingangstür an der Nordseite des Kirchturms bis zur Türmerstube führen, in 75 Metern Höhe über den Dächern der Bischofsstadt.
Die Stufen sind schmal und ausgetreten, denn der Arbeitsplatz der jungen Türmerin hat eine lange Geschichte. Eine Urkunde bezeugt das Türmeramt auf der Münsteraner Stadt- und Marktkirche erstmals für das Jahr 1383. "Damals war der Türmerberuf verfemt", weiß Saljé. Denn die Türmer mussten nach Hinrichtungen die Leichenteile entsorgen. Außerdem war es ihre Pflicht, bei Armenspeisungen mitzuhelfen. Das Ansehen des Türmers hat sich gewandelt: Als Tümerin ist Saljé ein echtes Münsteraner Original. Dazu ist sie die erste Frau in ihrem Amt. Doch für sie ist das nichts Besonderes. Sie möchte die Arbeit ihrer Vorgänger authentisch fortführen und jeden Abend über Münster wachen. Heute ist die Türmerin eine Beamtin der Stadt Münster und hat einen geregelten Arbeitstag: von 21 Uhr bis Mitternacht. Dennoch betont Saljé: "Mir geht es um die Bewahrung der Tradition". Ihr ist es wichtig, dass sie als Türmerin keine romantische Folklore bedient: "Deshalb führe ich keine Touristen auf den Turm."
Trotzdem wirkt ihr Amt wie aus einer vergangenen Zeit: Zur halben und zur vollen Stunde tutet sie mit ihrem 1,20 Meter langen Metallhorn zuerst nach Süden, dann nach Westen und schließlich nach Norden. "Der Osten wird aus Respekt vor dem Altar ausgelassen", erklärt Saljé. Zur halben Stunde sind es nur zwei Töne, zur vollen Stunde gibt sie die Zeit durch ihr Tuten an. Um neun Uhr kommt das Türmerhorn etwa dreimal für ein Trio an Tönen zum Einsatz. "Die Dreizahl steht für die Dreifaltigkeit", erklärt Saljé die Zahlensymbolik, die zu jeder Stunde eine andere ist.
"Es ist immer gut, wenn einer guckt"
Wenn die Menschen zu Füßen des Turms ihr Signal hören, wissen sie, dass alles in Ordnung ist. Denn früher musste der Türmer die Bürger vor Feinden vor den Stadttoren warnen und nach Feuer Ausschau halten. Während die erste Aufgabe in heutigen Friedenszeiten keine Bedeutung mehr hat, sieht Saljé von ihrem erhobenen Arbeitsplatz aus jedes Feuer im Stadtgebiet – oft eher als die Feuerwehr. "Erst vor zwei Wochen habe ich ein Feuer bei der Kanalschleuse gemeldet", sagt die Türmerin stolz. "Es ist immer gut, wenn einer guckt", schmunzelt sie. Sie arbeitet sehr eng mit der Feuerwehr zusammen. Jeden Tag bei Dienstbeginn und bei Feierabend meldet sie sich deshalb bei ihren Kollegen am Boden.
In den vergangenen Jahren ist Saljé in ihre Rolle hineingewachsen und fühlt sich als Türmerin sehr wohl. Ihre Augen glänzen freudig, wenn sie von ihrem Beruf erzählt. Für Münsters Bürger ist sie mehr als eine nächtliche Wächterin – sie ist eine Identifikationsfigur. "Manchmal sprechen mich Menschen in der Innenstadt an, wenn sie mich erkennen", erzählt Saljé. Man merkt, sie freut sich über den Kontakt mit den Münsteranern. Nach jedem Tuten beugt sich sich etwas über die Brüstung und winkt vom St.-Lamberti-Kirchturm herab. Oft stehen unten Menschen und geben ihr Zeichen nach oben hin. Wenn es bereits dunkel ist, schalten einige die Lampe an ihrem Handy an, damit sie von der Türmerin gesehen werden.
Neu in die Türmerstube hat Saljé 2014 ihr Laptop mitgebracht. Damit bloggt sie über ihre Arbeit und steht mit der ganzen Welt über ihren ungewöhnlichen Beruf in Kontakt. Das Interesse ist groß. "Eine japanische Künstlerin hat einen Kurzfilm über mich gemacht", erzählt sie lachend. Denn darin habe es, wie in Japan üblich, animiert geblitzt und geblinkt. Besonders oft hat sie Kontakt mit Mennoniten. Diese Freikirche aus der Reformationszeit geht zurück auf die Bewegung der Wiedertäufer, die im 16. Jahrhundert in Münster das "himmlische Jerusalem", den Himmel auf Erden errichten wollten. Doch das ließ sich der Münsteraner Bischof nicht gefallen und beendete das Täuferreich 1535 mit der gewaltsamen Rückeroberung Münsters. Die Anführer der Wiedertäufer ließ er foltern, töten und ihre Überreste zur Abschreckung in Käfigen am Turm der Lamberti-Kirche aufhängen. "Klar, dass sich die Mennoniten daher für mich als Türmerin an St. Lamberti interessieren", sagt die Historikerin Saljé. So stehe sie etwa in regelmäßigem Kontakt mit einem Professor aus Pennsylvania, wohin viele Mennoniten vor mehreren hundert Jahren ausgewandert waren.
Lange auf Friedenssuche gewesen
Auf den Katholikentag in Münster hat sich Saljé schon lange gefreut. "Das Motto passt perfekt zur Friedensstadt Münster", findet die Türmerin, die selbst Protestantin ist und keine Berührungsängste mit der katholischen Kirche hat. "Suche Frieden" – das sei weltweit eine wichtige Aufgabe angesichts der aktuellen politischen Lage. Der Katholikentag habe eine "andere Luft" in die Friedensstadt Münster gebracht. "Alles ist so freudig", zeigt sich die Tümerin begeistert, die viele Konzerte und Gespräche des Katholikentreffens besucht hat. Saljé hat sogar selbst eine Veranstaltung zum Katholikentags angeboten. "Aber das mache ich nicht als Türmerin, sondern als Künstlerin", stellt Saljé klar. Die Musikerin sang Friedenslieder, etwa von John Lennon und "Simon and Garfunkel".
Auf der Suche nach persönlichem Frieden ist Saljé lange gewesen. Sie studierte Musik und Geschichtswissenschaften, bevor sie in mehreren Ländern lebte und hatte viele Berufe, etwa in Museen, Archiven sowie als Lehrerin und Berufsmusikerin. Türmerin in Münster zu sein, ist ihr Traumberuf. Das verrät ein Blick in ihre Türmerstube: An den Wänden der engen Kammer hängen Postkarten mit Turmmotiven, historische Stadtpläne Münsters und mehrere Musikinstrumente. Zwischen Schreibtisch, Sessel und Schrank bleibt nicht viel Platz. Doch Saljé gefällt ihr Arbeitsplatz. Nachdenklich schaut sie durch eines der kleinen Fenster in Richtung Dom. "Hier bin ich dem Himmel näher", sagt sie und spricht von einem "spirituellen Gefühl". Deshalb will sie Türmerin bleiben, solange es geht. "Bis zur Rente und wenn möglich darüber hinaus." Martje Saljé hat ihren Frieden gefunden – 300 Stufen über den Dächern von Münster.