Die Aachener Heiligtumsfahrt gibt es seit dem Mittelalter - und präsentiert sie sich lebendig und modern

Pilgerstab und Windel

Veröffentlicht am 26.06.2014 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Heiligtumsfahrt

Aachen ‐ Es ist warm an diesem Morgen, die Sonne scheint, eine leichte Brise weht. Der Platz vor dem Karlsdom ist gut gefüllt, die Gemeinde feiert Gottesdienst unter freiem Himmel. Einige Gläubige sind ausgerüstet mit Wanderstöcken, Rucksäcken und Sonnenbrillen.

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Ein Lied wird angestimmt - "Zu Bethlehem geboren". Ein Weihnachtslied mitten im Sommer? Was sonst doch eher ungewöhnlich ist, ist in Aachen nun für knapp zehn Tage Normalität. Denn in dem westlichsten Bistums Deutschlands ist Heiligtumsfahrt. Beim Pilgergottesdienst haben sich einige Kinder mit ihren Rucksäcken und grünen Wallfahrtstüchern um den Hals auf der Erde niedergelassen und schauen gespannt, was vorne auf der Altarbühne passiert. Dort werden gerade die vier Stücke Stoff gezeigt, um die sich hier schon seit dem Mittelalter alles dreht: Die Windel Jesu, sein Lendentuch, ein Kleid Mariens und das Enthauptungstuch Johannes des Täufers. Normalerweise lagern die Tücher fein säuberlich zusammengelegt im goldenen Marienschrein im Dom. Doch alle sieben Jahre wird das Schloss des Schreins aufgebrochen und die Gläubigen kommen, um die ausgestellten Reliquien zu verehren. 2014 ist wieder so ein Jahr. Am vergangenen Freitag eröffnet, dauert die Wallfahrt noch bis zum kommenden Sonntag.

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Video: © katholisch.de

Der Aachener Bischof Heinrich Mussinhoff über den bisherigen Verlauf der Heiligtumsfahrt

Stoffrechtecke mit bunten Schleifen

Während der täglichen Pilgermessen wird der Gemeinde jede einzelne Reliquie vorgestellt – so auch an diesem Morgen. Das Kleid Mariens, das zwei Männer vor dem Altar in die Höhe halten, ist am besten zu erkennen. Zu sehen ist ein beigefarbenes, weitgeschnittenes Gewand. Die anderen drei Tücher werden nicht entfaltet und sehen deshalb von weitem aus wie große Stoffrechtecke, die nur durch ihre unterschiedlich farbigen Schleifen in gelb, rosa oder roter Farbe zu unterscheiden sind. Aufmerksam verfolgen die Gläubigen das Geschehen. Zu jeder Reliquie sprechen sie ein Gebet und singen ein Lied. Und während zum Lendentuch "O Haupt voll Blut und Wunden" passt, gibt das das grüne Pilgerheft zu den Windeln eben "Zu Bethlehem geboren" vor.

Nach dem Gottesdienst wandern die wertvollen Reliquien in den Dom zurück. Dort haben Hubert Sondermann und die anderen ehrenamtlichen Helfer, alle vornehm gekleidet mit Anzug und weißen Handschuhen, ganz schön zu tun, um den Besucherandrang zu managen. In einer langen Schlange, die bis vor den Dom hinaus reicht, warten Eltern und Kinder, junge und alte Menschen geduldig, bis auch sie in die 600 Jahre alte gotischen Chorhalle gelangen, wo die Heiligtümer ausgestellt sind. Anders als beim Gottesdienst draußen herrscht hier nicht ruhige, konzentrierte Andacht, sondern eine Atmosphäre von gespannter Erwartung. Leises und dennoch lebhaftes Murmeln bildet das Grundgeräusch, die Auslöser von Fotoapparaten klicken.

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Video: © katholisch.de

Ein Vergleich zwischen den Aachener Reliqien und den Heiligtümern des Todes

Video: Was haben Harry Potter und die Heiligtumsfahrt gemeinsam? Reporterin Sarah Schortemeyer hat es herausgefunden.

"Sie glauben eben daran"

Angekommen bei den Reliquien sehen die Menschen vier Glasvitrinen, für jedes der Heiligtümer eine. Neugierig betrachten die Gläubigen die Stoffe, die Karl der Große vor 1200 nach Aachen brachte. Einige setzen sich in das dunkle hölzerne Chorgestühl, beten oder beobachten die lange Prozession. Nicht wenige Besucher drücken den Helfern persönliche Gegenstände in die aus hygienischen Gründen behandschuhten Hände, die diese dann für einige Sekunden ganz nah an eines der vier Tücher halten. Deren gläserne Behältnisse sind dafür extra nach unten hin geöffnet. "Die Leute bringen Rosenkränze, Eheringe, Ketten. Sie glauben eben daran", erklärt Hubert Sondermann in gedämpften Ton. Gerade gibt er Pilgerin Cilly Meuthen ihren filigranen Kreuzanhänger zurück. "Ich verehre die Mutter Gottes – deswegen war es mir wichtig, den Anhänger hierher zu ihrem Kleid zu bringen", erklärt sie im Vorbeigehen.

Auch Luisa (7 Jahre), Karla (6 Jahre) und Anouk (7 Jahre) sind beeindruckt von den geheimnisvollen Stoffen. Alle drei wollen, dass auch ihre persönlichen Gegenstände den Reliquien nahe kommen - vom Kuscheltier bis zum grünen Pilgertuch. "Ich war vor sieben Jahren schon einmal hier", erklärt Luisa eifrig, "damals natürlich noch im Kinderwagen". Sie hat ihre Kette mit dem Elefantenanhänger hergebracht, damit es den Tieren auf der Welt besser geht. So entpuppt sich das kleine Mädchen als großer Fan der Heiligtumsfahrt – und das, obwohl sie noch nicht einmal katholisch ist, wie Mutter Angela Egin erklärt.

"Ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll"

Doch ob klein oder groß: Nicht auf jeden üben die vier Stoffstücke eine Wirkung aus. Am Ausgang diskutiert eine Gruppe von Pilgern angeregt über das, was sie gerade gesehen haben. "Ich weiß nicht so recht, was ich damit anfangen soll", sagt eine junge Frau. Der zweifelnde Tonfall ist nicht zu überhören. Auch ihre Begleiterin ist skeptisch: "Vielleicht geht es darum, dass Maria, Johannes und Jesus einfach Menschen waren", analysiert sie und sagt dann, schon bestimmter: "Ja, vielleicht soll man das erkennen." Zweifel kann der Dritte im Bunde nicht so wirklich verstehen: "Allein die Tradition, dass so viele Generationen von Menschen an die Reliquien geglaubt haben, gibt ihnen doch eine Bedeutung", sagt der Mann, der mit seinen Arbeitskolleginnen aus Köln angereist ist.

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Nach 10 Tagen auf dem Fahrrad ist Torsten Bühring in Aachen bei der Heiligtumsfahrt angekommen.

Unabhängig davon, wie sehr es den einzelnen anspricht: Bisher kann der Gastgeber und Aachener Bischof Heinrich Mussinghoff mit dem Verlauf der Wallfahrt zufrieden sein. Die Heiligtumsfahrt wird gut angenommen: "Es läuft gut", bilanziert er im katholisch.de-Interview und freut sich über die ausgelassene Stimmung in der Stadt. Dass er selbst offensichtlich mit dem Herzen dabei ist, zeigt sich wenig später beim Gebet mit rund 3.000 Kindern auf dem Katschhof: Mussinghoff steht am Rand, singt das Lied "Gottes Liebe ist so wunderbar" mit und streckt bei den Worten "… so wunderbar groß ..." wie die Kleinen mit die Arme in die Höhe.

720 Kilometer auf dem Fahrrad

In der Aachener Innenstadt hat sich derweil ein Pilger niedergelassen, der schon durch sein Aussehen auffällt. Statt Hut und Wanderstock hat Torsten Bühring Fahrrad und Helm dabei. Er trägt ein Heiligtumsfahrt-Trikot, das er extra für die Wallfahrt hat drucken lassen. 720 Kilometer hat der 47-jährige Magdeburger in zehn Tagen zurückgelegt, nur um die Heiligtümer in Aachen zu sehen. Von der Pilgerstätte hat der drahtige, schlanke Mann im Internet gelesen und dann sofort beschlossen: In diesem Jahr führt der Fahrradurlaub nach Aachen. Trotzdem war Bühring zunächst ein wenig ratlos: "Ich habe mich gefragt: Wie mache ich das eigentlich mit so einer Pilgertour?" Eine Nonne hat ihm schließlich geraten einfach loszufahren, ohne konkrete Vorstellung. Und das hat funktioniert: "Wenn man vier bis fünf Stunden Rad fährt, dann ist das wie Schweigeexerzitien", erklärt er.

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Gabriele und Sarah haben sich in Aachen auf die Suche nach den vier verstecken Caches gemacht.

Audioslideshow: Los gehts zum Geocaching - Katholisch.de-Reporterinnen Sarah Schortemeyer und Gabriele Höfling sind dabei.

Nach der langen Reise will er gleich mehrere Tage in Aachen bleiben. Langweilig sollte es ihm nicht werden. Denn zur Heiligtumsfahrt gehört ein umfangreiches Rahmenprogramm: Ausstellungen und Konzerte, Tagungen und Vorträge. Gläubige, die ein Smartphone besitzen, können das Geocaching - eine Art digitale Schatzsuche - ausprobieren, das mit Hinweisen wie "Heute hätte er vielleicht Hipsters getragen" lockt. Ganz leicht zu finden sind die vier Caches, die thematisch jeweils zu einem der Heiligtümer passen, allerdings nicht. Aber es lohnt sich: so können die Pilger doch noch auf Schatzsuche gehen – auch wenn die Heiligtümer, um die es eigentlich geht, ganz offen ausgestellt sind.

Von Gabriele Höfling