Pater Andreas Knapp über "Wüstenerfahrungen" im Alltag

Wie Sie Gottes Stimme in Ihrem Innern hören

Veröffentlicht am 11.09.2018 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Spiritualität

Bonn ‐ Die Wüste ist Inbegriff der Einsamkeit. Und genau deshalb gilt sie seit jeher als Ort, an dem man Gott begegnen kann. Pater Andreas Knapp hat die Erfahrung gemacht, dass man diesen Weg der Stille und des Rückzugs auch zu Hause beschreiten kann.

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Die Ordensgemeinschaft der "Kleinen Brüder vom Evangelium", in der ich Mitglied bin, führt auf Charles de Foucauld zurück. Dieser Abenteurer und Wüstenmönch hat die Wüste als einen besonderen spirituellen Ort erlebt. Inmitten einer dürstenden Landschaft wollte er den Gottesbrunnen finden. Er glaubte: "Man muss die Wüste durchqueren und in ihr verweilen, um die Gnade Gottes zu empfangen."

Welche Bilder tauchen in uns auf, wenn wir das Wort "Wüste" hören? Vielleicht denken wir an eine unendlich weite Dünenlandschaft oder an unermesslich ausgedehnte Steinwüsten. Landschaften, in denen so gut wie niemand lebt, werden zum Gegenbild unserer dicht besiedelten Städte mit ihrem engen Gedränge. Weil man in der Wüste nur wenige Menschen findet, wird sie zum Inbegriff der Einsamkeit.

Wir sind einzigartig. Und deshalb auch einsam

Doch Einsamkeit begegnet uns nicht nur in den menschenleeren Gebieten der Sahara oder des Sinai, sondern ebenso im Herzen unserer Städte. Jeder Mensch kennt Stunden tiefster Einsamkeit. Und diese entsteht und wächst als Kehrseite unserer Einmaligkeit. Jeder Mensch ist ein Original und so einmalig wie sein Fingerabdruck. Wir sind keine Kopien und Klone, sondern originell und einzigartig. Jede Person wird von bestimmten Eigenschaften geprägt und durch ihre Geschichte geformt. Jeder und jede kennt aber auch eine Verletzungsgeschichte, die sich in einer ganz individuellen Empfindsamkeit niederschlägt. Daher sieht und erlebt jeder Mensch die Welt in einer ganz spezifischen Weise.

Diese wunderbare Einmaligkeit bringt die Einsamkeit mit sich. Denn es gibt zum Beispiel Eigenheiten, die nur mir eigentümlich sind und die auf andere fremd und befremdlich wirken. Was ich erlebe, wie ich empfinde, meine Ideen und Träume, all das ist so besonders, dass ich vieles davon mit anderen nicht teilen kann. Wir verstehen andere immer nur bedingt und begrenzt und oft gar nicht. So stolz ich auf meine Einmaligkeit Wert lege, so schmerzlich kann bisweilen die Einsamkeit nagen.

Die Entwicklung unserer modernen Gesellschaft scheint die Einsamkeit vieler Menschen noch zu mehren. Verschiedenste Lebensformen, Stile und Berufsmöglichkeiten fächern unsere Gesellschaft immer weiter auf. Soziale Zwänge haben abgenommen und man löst sich leichter aus überkommenen Strukturen und Gewohnheiten. Damit lösen sich aber auch soziale Netze auf, die Menschen gehalten und ihnen einen festen Platz zugewiesen haben. Der Schutzraum des sozialen Milieus, etwa eines Berufs oder einer Rolle, wird löchrig und wärmt nicht mehr. Jetzt muss man sich selber stärker um einen Ort in der Gesellschaft kümmern, der einem Halt und Heimat gibt. Auch die Strukturen von Familie und Verwandtschaft tragen nicht mehr so stark. Zerbrochene Beziehungen oder die beruflich geforderte Mobilität machen das soziale Netz noch rissiger.

Charles Eugene Vicomte de Foucauld mit Kamel und Tuarek.
Bild: ©KNA

Der französische Eremit Charles de Foucauld (links).

Andere Netze (Internet, Kommunikationsmedien) werden in Anspruch genommen, um neue Beziehungen zu knüpfen. Der große Boom an Netzwerken macht deutlich, wie mächtig sich in einer individualisierten Gesellschaft das Bedürfnis nach Gemeinschaft zu Wort meldet und dass es Vernetzungen braucht, um Menschen in ihrer Vereinsamung aufzufangen. Ohne ihr Handy fühlen sich viele Menschen abgenabelt vom Rest der Welt. Ein junger Mann, der mich zu einem Praktikum ins Gefängnis begleitete und an der Pforte sein Handy abgeben musste, sagte spontan: "Ich fühle mich jetzt ganz nackt." Man braucht die ständig eintreffenden elektronischen Signale, die einen beruhigen: "Jemand denkt an mich. Ich bin noch nicht vergessen. Ich bin jemand."

Die Bibel erzählt von Menschen, die in der Wüste entdecken konnten, dass sie im Tiefsten nicht allein, sondern von Gott gekannt und geliebt sind. Ein Beispiel: Abrahams Frau Sara fürchtet ihre Magd Hagar als Nebenbuhlerin, weil diese von Abraham schwanger geworden ist und sich daher Sara überlegen fühlt. Als Reaktion darauf jagt Sara ihre Magd in die Wüste. Hagar ist verzweifelt und dem Tod nah. Doch dann hört sie, wie der Engel Gottes sie anspricht und ihr Mut macht, wieder zu Abraham und Sara zurückzukehren. Die zentrale Erfahrung besteht darin, dass sie in ihrer Einsamkeit und Not spüren kann, dass sie von Gott nicht vergessen ist. Sie nennt Gott "denjenigen, der nach mir schaut". Und dieser erste Gottesname in der Bibel wird in Verbindung gebracht mit einem Brunnen, dem sie den Namen "el-roï" gibt: Die Ahnung, dass Gott sie liebevoll anschaut, wird zur Quelle neuer Lebenskraft.

Die Wüste, die man selber ist, aushalten

Dort, wo Menschen ihre Einsamkeit spüren und annehmen, können sie zugleich eine tiefere Form von Angenommensein und Verbundenheit erleben: Ich bin angewiesen auf ein größeres Du. Ich ersehne eine umfassende Liebe, wie sie Menschen gar nicht geben können. Diese Sehnsucht nach innerer Heimat, nach Verstandenwerden und Gemeinschaft wird zum Türöffner, der Menschen ahnen lässt, dass Gott selbst und Gott allein diesen Durst nach Liebe stillen kann.

Um in diese Glaubenserfahrung hineinzuwachsen, muss man die Wüste, die man selber ist, aushalten. Dabei spielt die Stille eine entscheidende Rolle. Seit den Anfängen des Christentums haben Einsiedlerinnen und Einsiedler eine zurückgezogene Lebensweise gewählt, um in der Stille und Abgeschiedenheit Gott zu suchen. Nach einem Wort von Meister Eckhart ist nichts im Universum Gott ähnlicher als die Stille. Ohne das Schweigen laufen wir Gefahr, uns im Äußeren und Äußerlichen zu verlieren. Unsere Welt ist laut und geschwätzig. Wir leben mit einem Hintergrundrauschen, das nie aufhört: der Lärm der Autos und Züge, ein Geräuschpegel, der unaufhörlich dröhnt. Viele brauchen die Dauerberieselung durch Fernseher und Smartphone. Wenn es einmal still wird, dann kommt uns das unheimlich vor.

C. S. Lewis erzählt in seinen "Anweisungen an einen Unterteufel", wie der Oberteufel seinen Neffen das Teufelshandwerk lehrt: Wir müssen die Menschen dazu bringen, dass sie möglichst viel Krach machen. Wir müssen also dafür sorgen, dass es immer lauter wird, bis das ganze Weltall ein einziger Höllenlärm ist. Und dann stellt der Oberteufel zufrieden fest: Im Blick auf dieses Ziel sind wir, was die Erde anbelangt, in den letzten Jahren ein gutes Stück vorangekommen.

Die Kleinen Brüder

Im Geiste des französischen Mönches Charles de Foucauld führen die "Kleinen Brüder vom Evangelium" ein Leben im Spannungsfeld von realem Alltag und kontemplativem Rückzug. Sie üben einerseits einfache Berufe aus und bemühen sich dabei um die Nähe zu ihren Mitmenschen. Andererseits ziehen sie sich auch immer wieder in Einsamkeit und Stille zurück.

Warum ist Lärm für den Teufel von Vorteil? Wenn es um mich herum laut ist, kann ich die Stimmen in mir kaum noch wahrnehmen. Dann überhöre ich auch die Stimme Gottes in meinem Innern: im Gewissen, im Aufsteigen von Dankbarkeit, in der Sehnsucht nach Liebe. Wir vermeiden das Hören auf die inneren Stimmen, weil dies schmerzlich sein kann. Denn in uns wohnen auch Angst, Erinnerungen an Verletzungen, an Schuld oder Verlassenheit. Wir stoßen auf unsere Endlichkeit und zugleich auf den Hunger nach dem Unendlichen. Wer aber nicht mehr auf sich selbst hört, der hört bald nur noch auf andere. Menschen sind umso leichter manipulierbar, je weniger sie einen Zugang zu dem haben, was sie selber empfinden und wollen. Dazu kommt, dass Lärm betäubt. Wir werden taub für die Zwischentöne und alles Zarte und Leise. Beziehungen aber wachsen in der Stille. Nur wer schweigen kann, vermag auch gut zuzuhören. Wer auf das Leben lauschen will, der muss das Gras wachsen hören.

In der Regel meiner Gemeinschaft wird uns nahe gelegt, jeden Tag eine Stunde im Schweigen (Anbetung, Meditation) zu verbringen. Darüber hinaus pflegen wir regelmäßige Zeiten in einer "Einsiedelei", um dort tiefer in die Stille hinein zu finden. In den Jahren, in denen ich am Fließband arbeitete, genoss ich es, in die Stille der Natur oder unserer Einsiedelei zu gehen. An solchen Orten bin ich nicht mehr fremdbestimmt, sondern kann meinem eigenen Rhythmus folgen. Ich achte auf meinen Atem, meine Gefühle, meine Erinnerungen.

In der Stille erahne ich Gottes Gegenwart

Wenn ich in die Stille gefunden habe, dann verstummen die Stimmen, die etwas von mir wollen und mich immer weiter jagen: die Stimme des Ehrgeizes oder der Konsummaschinerie. In der Stille erlebe ich, dass ich einfach da sein darf, ohne etwas leisten oder machen zu müssen. Niemand will etwas von mir. Diese Stille wird für mich zum Raum, in dem ich Gottes Gegenwart erahnen kann. Denn auch Gott will nichts von mir, sondern schenkt mir Weite zum Atmen und Leben. Jetzt braucht es keine Worte mehr. Ich bete mit meinem Dasein.

Solche Erfahrungen, in denen ich Gott spüre, lassen sich anderen nur schwer vermitteln. Dazu kommt, dass ich in einer Umgebung lebe, in der religiöse Begriffe kaum verstanden werden. Doch die Sehnsucht nach Stille, die kennen auch viele meiner Kollegen, die unter dem Lärm der Arbeits- und Konsumwelt leiden. Wenn ich ihnen erzähle, dass ich öfter in die Stille gehe, so reagieren sie interessiert, manchmal sogar neidisch. Ich ermutige sie, sich auch solche Auszeiten zu nehmen. Wäre das für sie vielleicht sogar ein Weg zu Gott? Auf jeden Fall braucht es zuerst eine Erfahrung. Die Worte kommen später. Im Anfang ist die Stille. Wenn Menschen ins Schweigen gehen, rühren sie an ihre eigene Tiefe, berühren sie vielleicht sogar Gott. Denn "Gott ist der Leiseste von allen" (Rilke).

Von Andreas Knapp

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