Der Jesuit Stefan Kiechle erklärt die uralte spirituelle Praxis

Papst Franziskus und die Gewissenserforschung

Veröffentlicht am 14.09.2018 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Papst Franziskus senkt den Kopf, um ihn herum ist alles dunkel
Bild: © KNA
Spiritualität

Bonn ‐ Immer wieder ruft der Papst zur "Gewissenserforschung" auf. Dabei handelt es sich um eine uralte Praxis ignatianischer Spiritualität. Der Jesuit Stefan Kiechle erklärt sie – und liefert eine Antwort, warum Franziskus zu manchen Themen schweigt.

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Der heilige Ignatius von Loyola (1491-1556), Gründer der Jesuiten, legt in seiner spirituellen Lehre großen Wert auf die tägliche Gewissenserforschung: Man nimmt sich abends eine Viertelstunde Zeit und schaut in Stille den vergangenen Tag an. Was man an Fehlern und Versagen entdeckt, bringt man ins Gebet: Man bereut es, bittet Gott um Vergebung und nimmt sich Besserung vor. Diese spirituelle Übung hat eine sehr lange Tradition. Leider hatte sie in den letzten Jahrhunderten den Blick meist zu sehr auf die Sünde gerichtet, so dass es fast nur um Reue und um moralische Besserung ging, um eine Art Selbsttraining zur Vervollkommnung.

Liest man allerdings bei Ignatius genau nach, so findet sich dort auch ein Schwerpunkt auf dem Dank: Im Rückblick auf den Tag nimmt man wahr, was der Herr an Gutem geschenkt hat; dafür soll man ihm ganz konkret und ausdrücklich mit eigenen Worten danken. Daher nennt man heute im deutschen Sprachraum diese Übung meist "Tagesrückblick" oder "Gebet der liebenden Aufmerksamkeit": Mit einem wohlwollenden und liebevollen Blick schaut der oder die Betende aufmerksam auf den Tag zurück und bringt vor Gott, was ihn oder sie bewegt: Freude und Leid, Dank und Bitte, Hoffnung und Klage, Zweifel und Lobpreis. Alle "Regungen der Seele" – so nennt das Ignatius – dürfen vorkommen und ehrlich und vertrauend Gott hingehalten werden. Gott schenkt die Gnade der Umkehr, aber auch Freude und Hoffnung und Dank.

Der Papst macht es wohl täglich

Papst Franziskus ist bekanntlich ein guter Jesuit und macht diesen Tagesrückblick – im romanischen Sprachraum spricht man auch heute von "Gewissenserforschung" – vermutlich jeden Abend. Kürzlich deutete er diese Praxis in einer Morgenpredigt in St. Marta etwas aus: Er sprach dabei von den zwei "Geistern", die im "Schlachtfeld" der Seele um die Vorherrschaft "kämpfen". Diese etwas militärische und bei uns nicht mehr übliche Sprache kommt ebenfalls aus der Tradition des Ignatius. Das Bild will sagen, dass die "Regungen der Seele", also jene Gefühle, Gedanken, Sehnsüchte, Zu- und Abneigungen, Ängste, aber auch Vergnügen usw., die man beim Tagesrückblick wahrnimmt, von einem guten Geist, also dem Heiligen Geist, kommen können oder von einem bösen Geist, also dem Teufel – über ihn spricht der Papst ja öfters. Vom guten Geist kommen sie, wenn sie zu guten Werken, zu Liebe, zu Geschwisterlichkeit, zur Anbetung Gottes und zur Kenntnis Jesu führen – so der Papst in seiner Predigt. Vom bösen Geist kommen sie, wenn sie zu "Eitelkeit, Stolz, Genügsamkeit, Geschwätz" führen.

Vom Frauenheldenzum Geistlichen
Bild: ©picture-alliance/akg-images/Erich Lessing

Der heilige Ignatius von Loyola, Gründer der Jesuiten, auf einem Gemälde von Peter Paul Rubens.

Das Problem ist nur, dass wir Menschen unsere Regungen bisweilen nicht gut einschätzen und uns in ihnen täuschen. Wir brauchen eine "Unterscheidung der Geister", um zu erkennen, welche Regung vom guten und welche vom bösen Geist kommt. Ignatius gibt dafür eine ausgefaltete Lehre, die im Hintergrund der Papstpredigt steht. Beispielsweise habe ich die Idee, etwas zu tun, was mir schon in der Erwartung große Lust macht: Diese Idee kann entweder hilfreich sein und zu Gutem führen, oder sie kann mich oder andere massiv schädigen – dann wäre sie eine Versuchung, und würde ich ihr nachgeben, wäre das Sünde. Ein anderes Beispiel: Ich habe Angst vor einer neuen Aufgabe, die auf mich zukommt: Ist diese Angst übertrieben und irrational, weil ich die Aufgabe in Wirklichkeit gut bewältigen könnte, will durch diese Angst der böse Geist mich von Gutem abhalten; ist sie jedoch realistisch, weil die Aufgabe wirklich zu groß oder zu riskant wäre, warnt mich durch jene Angst der gute Geist vor einer Überforderung oder vor einer Gefahr – die Aufgabe wäre dann nach Ignatius eine "Versuchung unter dem Schein des Guten".

Papst Franziskus sagt in seiner Predigt, dass die tägliche Gewissensprüfung dazu hilft, Versuchungen zu erkennen. Wir bekommen Klarheit über diese gegensätzlichen Kräfte in der Seele und können besser den guten folgen und den bösen widerstehen. Jeden Abend sollen wir darüber nachdenken, ob im konkreten Verhalten des abgelaufenen Tages Eitelkeit und Stolz über uns gesiegt haben – und wir würden daraus für die Zukunft lernen. Wie so oft ist der Papst in seinen Bildern recht drastisch: Würden wir nicht erkennen, was in unseren Herzen passiert, wären wir wie "Tiere, die nichts verstehen" und sich nur von ihrem Instinkt leiten lassen. Aber wir sind "Kinder Gottes, getauft mit der Gabe des Heiligen Geistes"; deswegen können wir verstehen, was in unseren Herzen passiert. Am Ende der Predigt betet der Papst, dass Herr uns lehren möge, jeden Tag unser Gewissen zu prüfen.

Dunkles, Falsches, Sündiges

Das spanische Wort für Unterscheidung der Geister ist übrigens discreción: Es meint einerseits die geistliche Klugheit, die die Regungen der Seele erkennt und mit ihnen gut umgehen kann, andererseits aber auch – wie das deutsche Wort "diskret" – die Verschwiegenheit, durch die man weiß, wo und bei wem man über welche Themen reden oder nicht reden soll. Papst Franziskus ist in diesem doppelten Sinn ein diskreter Mann: Er ist klug im Unterscheiden der Geister, und er weiß zu reden und zu schweigen. Gerade Schweigen muss ein Mann, der in einem hohen Amt viel Dunkles und auch Falsches und Sündiges zu hören bekommt und dies ertragen muss, sehr häufig.

Aus guter Unterscheidung muss er entscheiden, ob er über eine Angelegenheit spricht – dann über alles, was mit ihr zusammenhängt, auch über dunkle Hintergründe – oder schweigt. Über alles kann er oft nicht sprechen, denn er würde Persönlichkeitsrechte verletzen, von dieser oder jener in dieser oder jener Weise betroffenen Person. Also muss er schweigen, wozu auch gehört, dass man darüber schweigt, ob man etwas zu sagen hätte, und ebenso darüber, warum man schweigt – das verstehen dann die Nicht-Schweiger und erst recht die skandalhungrige Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr. Dennoch: Die Kirche darf darauf vertrauen, dass Papst Franziskus auch im Schweigen klug ist. Meist diskret, aber mit aller Kraft agiert er gegen Böses, doch muss man sehen, dass seine Möglichkeiten eng begrenzt sind – in der Kirche ist vieles starr, und Menschen kann man nicht so leicht ändern... Sein Gewissen erforscht er gewiss öfter und ehrlicher als der Großteil der Menschheit.

Von Stefan Kiechle SJ

Der Autor

Dr. Stefan Kiechle SJ lebt in Frankfurt; er ist Chefredakteur der Kulturzeitschrift "Stimmen der Zeit" und Beauftragter des Jesuitenordens für ignatianische Spiritualität.