"Täter wurden geschützt" - EKD-Synode befasst sich mit Missbrauch
Die Journalistin Kerstin Claus war 14 Jahre alt, als sie sich in einer schwierigen familiären Situation an ihren evangelischen Pfarrer wandte. Er versprach sich zu kümmern. Was er damit verband, war ihr damals nicht klar, wie Claus heute berichtet: Zwar sorgte er dafür, dass sie in ein evangelisches Internat kam, zugleich bedrängte der Pfarrer sie, wurde sexuell übergriffig und missbrauchte sie, bis sie 17 war. Erst Jahre später, als sie selbst Kinder hatte, konnte sie über das Erlebte sprechen.
Eine konstruktive Unterstützung von der bayerischen Landeskirche, an die sie sich 2003 erstmals wandte, habe sie nicht erhalten. Erst 2010 nahm die Staatsanwaltschaft Passau Ermittlungen auf. Da war der Fall bereits verjährt. Aber Claus wollte weiter kämpfen. Heute sitzt sie im Betroffenenrat beim Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung. Ihre Geschichte erzählte sie bei einem Hearing über Missbrauch in den Kirchen. Die heute 49-Jährige richtet klare Forderungen an die evangelische Kirche, um anderen das zu ersparen, was ihr angetan wurde.
Sie spricht sich für eine zentrale Anlaufstelle aus, an die sich Betroffene wenden können. Zudem gebe es anders als bei der katholischen Kirche noch keinen Versuch, sämtliche Taten zu erfassen und aufzuarbeiten. Ihre Appelle und die anderer hatten Erfolg: Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) will sich dem Thema stellen.
Nachdem die katholische Bischofskonferenz bei ihrer Herbstvollversammlung im September eine von ihr in Auftrag gegebene Studie zu sexueller Gewalt vorgestellt hatte, steht das Thema in der kommenden Woche bei der EKD-Synode in Würzburg auf der Tagesordnung.
Kritiker wie die erste Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Christine Bergmann, werfen der EKD mangelndes Engagement bei der Aufarbeitung vor. Wie Kerstin Claus plädiert Bergmann, die selbst in der evangelischen Kirche aktiv ist, für eine umfassende Studie über den Umfang von Missbrauch. Bisher gibt es dazu lediglich Anhaltspunkte und Schätzungen.
EKD plant Maßnahmenkatalog
Erste Erkenntnisse bietet eine repräsentative Studie, die Wissenschaftler um den Ulmer Psychiater Jörg Fegert in diesem Jahr veröffentlicht und für die sie rund 2.500 Menschen zu Erfahrungen sexuellen Missbrauchs in kirchlichem Umfeld in Kindheit und Jugend befragt haben. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland kamen sie dabei auf die erschreckende Zahl von 200.000 Opfern im Bereich der christlichen Kirchen.
Im Vorfeld der Synode sagte der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), dass die EKD dabei sei, einen Beauftragtenrat zu konstituieren. Diesem sollten neben der Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs auch die Bischöfe Jochen Cornelius-Bundschuh (Baden) und Christoph Meyns (Braunschweig) angehören. Zudem habe die Kirchenkonferenz der EKD im September "einen Katalog von Maßnahmen beschlossen, der jetzt in alle Landeskirchen transportiert wird". Eine Studie plane die EKD derzeit aber nicht.
"Warum eigentlich nicht?", fragte Bergmann im Oktober in einem Beitrag, für die evangelische Kirchenzeitung "Die Kirche". Die unabhängige Aufarbeitung könne eine Studie zwar nicht ersetzen. Sie könne aber wichtige Daten über das Geschehen bis in die Gegenwart liefern, so Bergmann. Und: "Wir sind schließlich erst am Anfang der Aufarbeitung."
Es seien besonders die Berichte der Betroffenen wie Kerstin Claus, die erschütterten, betonte Bergmann weiter. Die Kinder und Jugendlichen hätten keine Chance gegenüber der Autoritätsperson des Pfarrers. Auch in der evangelischen Kirche seien Pfarrer versetzt worden, die sexuelle Übergriffe begangen hätten. "Der Täter wurde geschützt - nicht die Kinder", so Bergmann. Betroffene seien beim Versuch, ihre Geschichte aufzuarbeiten, oft auf eine "Mauer des Schweigens" gestoßen.
Auch die unabhängige Aufarbeitungskommission, in der Bergmann vertreten ist, fordert mehr: Nur durch eine Anerkennung der Schuld, die klare Übernahme der Verantwortung und eine konsequente Aufarbeitung könne die Kirche Vertrauen zurückgewinnen, erklärte sie im Vorfeld der Synode.
Aktuell: Kommission: Evangelische Kirche muss Missbrauch aufarbeiten
Die unabhängige Aufarbeitungskommission hat die evangelische Kirche aufgefordert, Verantwortung für sexuellen Kindesmissbrauch zu übernehmen und eine unabhängige Aufarbeitung zu ermöglichen. Die Fälle von Missbrauch in einzelnen Institutionen in ihrer Trägerschaft und durch ihre Amtsträger ließen auf strukturelle Ursachen in der Kirche schließen. Anlass der Äußerung ist die 12. Synode der EKD vom 11. bis zum 14. November in Würzburg. Die Kommissions-Vorsitzende Sabine Andresen erklärte, die Fälle von Missbrauch in einzelnen Institutionen ließen auf strukturelle Ursachen in der Kirche schließen.
Zudem hätten sich bisher insgesamt 31 Betroffene bei der Kommission gemeldet und von Missbrauch in der evangelischen Kirche berichtet, davon sieben in Freikirchen. Etwa die Hälfte dieser Betroffenen habe sich noch nicht an die Kirche gewandt. Gründe hierfür seien Angst, Scham, Unsicherheit oder mangelnde Informationen über Anlaufstellen.
Weiter forderte die Kommission eine Entschädigung der Betroffenen sowie eine Unterstützung betroffener Gemeinden und Einrichtungen. Beim Umgang mit den Tätern brauche es eine Kooperation mit dem Staat. Die Aufarbeitungskommission hatte Anfang 2016 ihre Arbeit aufgenommen. Sie soll Ausmaß und Folgen von Kindesmissbrauch in Deutschland untersuchen und ist beim Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung angesiedelt.
Ein EKD-Sprecher begrüßte die Stellungnahme der Kommission. Der neue Beauftragtenrat der EKD werde sich mit der Empfehlungen der Kommission befassen und diese mit den eigenen Vorhaben zur bevorstehenden Synode abgleichen. Die EKD wolle weiter mit der Kommission zusammenarbeiten. Zudem habe der EKD-Ratsvorsitzende, Bischof Heinrich Bedford-Strohm, den Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, für die Dezember-Sitzung des EKD-Rates eingeladen. (luk/KNA)