Der neue "Canterbury"
Nach nur einem Amtsjahr als Bischof einer nachrangigen Diözese hat Justin Welby alle Favoriten hinter sich gelassen. Der frühere Öl-Manager und Finanzexperte von Elf Aquitaine wird neuer Erzbischof von Canterbury und damit Primas der anglikanischen Staatskirche von England.
Stärken und Schwächen
Einen spannender Typ, den die zuständige "Nominierungskommission der Krone" zum Nachfolger des scheidenden Walisers Rowan Williams (62) erwählt hat. Der bisherige Bischof von Durham, Justin Welby, ist ein echter Quereinsteiger. Der 56-jährige Eton-Absolvent, Jurist, Theologe und Familienvater, wurde erst 1993 zum Priester und erst im Oktober 2011 zum Bischof geweiht. Zuvor war er unter anderem elf Jahre als Finanzmanager im Ölgeschäft.
Management-Qualitäten gingen dem herausragenden Denker und Feingeist Williams als Primas zuweilen ab; er suchte vor allem den Kompromiss im Dialog. Von "Führungsschwäche" sprachen gar seine Kritiker. Für Welby sprechen sein Realitätssinn, die enorme Auffassungsgabe und Weltläufigkeit, die ehemalige Geschäftskollegen und Amtsbrüder ihm bescheinigen. Als Malus brachten argwöhnische Stimmen im Vorfeld eine mangelnde klerikale Leitungserfahrung vor. Aber das kann in der Alten Dame Staatskirche ja durchaus von Vorteil sein.
Beeindruckende Vita
Welbys Berufsausbildung ist makellos: Schulabschluss in Eton; Jura und Geschichte in Cambridge und Dublin; Managerposten in Paris und London, bei denen es etwa um die Finanzierung von Ölförderprojekten in Nigeria ging. Parallel engagierte sich Welby bereits als Laie in einer anglikanischen Gemeinde im Londoner Stadtzentrum. Der Unfalltod seiner kleinen Tochter - einem von insgesamt sechs Kindern - brachte ihn Gott näher.
1989 dann die radikale Umorientierung: Theologiestudium, Diakonen- und Priesterweihe, Ämter als Pfarrer, Kanoniker in Coventry (seit 2002) und von 2007 bis 2011 als Dekan der Kathedrale von Liverpool. Dabei weist Welbys Karriere als Seelsorger auch Stationen in sozialen Brennpunkten auf. Weggefährten schwärmen von seinem gewinnenden Wesen, von Freundlichkeit und Überzeugungskraft.
Von der Ölindustrie auf den Bischofsstuhl
Seine Karriere in der Ölindustrie bedeutet offenbar keine ideologische Nähe zum Finanzsektor - im Gegenteil. Im Parlament sitzt er (als Oberhausmitglied) im Ausschuss für Bankenaufsicht. In einer Rede in Zürich kritisierte Welby im Oktober den Umgang mit der Finanzkrise seit 2008. In der Finanzwelt sei ein hektischer Aktivismus ausgebrochen, der aber "keinerlei sozialen Zweck verfolgt" habe. Welby verlangte eine Wiederherstellung des zerstörten sozialen Zusammenhaltes, des Gemeinwohls und der Solidarität. Finanzdienste seien entscheidend für die menschliche Entwicklung; doch als solche könnten sie nur funktionieren, wenn sie wirklich als Dienst verstanden und angeboten würden.
Erst seit einem Jahr Bischof, rückt Welby nun rasch ganz nach vorn ins Rampenlicht. Der 105. Erzbischof von Canterbury ist auch als Sanierer gefragt, was die Frage der Kircheneinheit angeht. Dabei ist zu erwarten, dass er, ein Mitglied des evangelikalen Kirchenflügels, einen konservativeren Kurs steuern wird als der Liberale Williams. Mehrfach sprach er sich gegen die Einführung der sogenannten Homo-Ehe aus. In der Frage der Bischofsweihe für Frauen vertritt er eine Mittelposition: Er sprach sich zwar dafür aus, will aber auch den Gegnern Wege zum Erhalt der Kircheneinheit ebnen.
Der neue "Canterbury" hat nun Zeit, die Weichen für die "Lambeth Conference" 2018 zu stellen. Bei diesen alle zehn Jahre stattfindende Treffen aller Bischöfe der anglikanischen Weltgemeinschaft wurden in den vergangenen Jahrzehnten die großen Streitthemen diskutiert. Spätestens dann ist der Manager und Sanierer in Welby gefragt - und der Versöhner.
Von Alexander Brüggemann (KNA)