Warum die Jungfrau Maria auf Teneriffa eine Göttin war
Stehen die Seitentüren der Basilika von Candelaria offen, trägt der Wind den Salzhauch der See hinein und den Klang des atlantischen Wellenschlags. Drinnen, auf den Holzbänken fühlt man sich weit weg von den Auswüchsen der Ferieninsel Teneriffa, den Hotelklötzen, Stränden und Touristenmassen. Hier gibt der Glaube den Weg vor - veranlasst durch eine Marienfigur, deren Vorläuferin im Jahr 1392 entdeckt wurde, erstaunlicherweise zu einer Zeit, als das Christentum hier noch völlig unbekannt war.
So will es die Legende, die den Volksglauben zementiert hat. Laut Überlieferung waren es zwei Hirten aus dem Volk der Guanchen, der Ureinwohner der Kanaren, die am meeresnahen Auslauf des Tals von Güimar auf das Bildnis stießen, das sie für eine leibhaftige Person hielten. So etwas hatten sie noch nie gesehen. Es war eine prachtvoll gekleidete Dame, die ein gekröntes Baby auf dem rechten Arm und eine Kerze in der linken Hand hielt - und den Weg der Herde versperrte. Da es im Reich verboten war, einsame Frauen anzusprechen, versuchten es die beiden mit Zeichensprache. Doch ihr Gegenüber rührte sich nicht.
Ihr anfängliches Erstaunen schlug zunehmend in Zorn um. Einer der Hirten griff einen Stein, um ihn zu werfen. Im selben Moment wurde sein Arm gelähmt. Worauf der andere wutentbrannt mit einem Faustkeil auf die Unbekannte loslief - und sich selbst gegen seinen Willen Schnittwunden zufügte. In Panik stürzten sie vom Ort des Geschehens und verständigten die Autoritäten ihres Königs. Der Herrscher machte sich mit einem Kriegertrupp auf und spürte sogleich die magische Aura der Figur.
Er ließ das Frauenbildnis in seinen Palast bringen, gab ihr einen Ehrenplatz und den Namen Chaxiraxi, "Mutter der Sonne". Bald bekam sie den Status einer Göttin, auch in den übrigen Reichen der Guanchen auf Teneriffa. Als die Insel im 15. Jahrhundert von den Spaniern erobert und christianisiert wurde, war es ein konvertierter Guanche, der in Chaxiraxi die heilige Gottesmutter Maria erkannte. Die Höhle Achbinico, unweit der jetzigen Basilika gelegen, avancierte zur Verehrungsstätte der "Kerzen-Jungfrau", der Virgen de Candelaria. Nach dem Abschluss der Eroberung Teneriffas hielt man hier am Tag Mariä Lichtmess, dem 2. Februar 1497, die erste Messe.
Der Blick in die Chronologie zeigt, dass das wundersame Marienbildnis im 16. Jahrhundert von der Grotte in eine Kapelle abwanderte und zur Patronin der Kanaren aufstieg. Aus dem Kirchlein erwuchs ein stattliches Heiligtum der Dominikaner, das allerdings 1789 einer Feuersbrunst zum Opfer fiel. Einzig die Skulptur überstand die Katastrophe, doch 1826 verschwand sie während einer verhängnisvollen Überschwemmung. Kurz darauf schuf der Künstler Fernando Estevez in Anlehnung an das alte Bildnis ein neues, was dem Glauben aber keinen Abbruch tat. Heute nimmt es im Altarraum der 1959 geweihten Basilika den Ehrenplatz ein und wird vom Volksmund liebevoll "La Morenita", also "kleine Braune", genannt.
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Höchste Festtage im Jahreszyklus sind Mariä Lichtmess und der 15. August, Mariä Himmelfahrt. Der Besuch indes lohnt jederzeit - und das nicht einzig wegen Maria. Eine Seitenkapelle beim Altarraum lässt das Letzte Abendmahl in einer Flut aus Farben auf seine Betrachter stürzen, in der Büßerkapelle hängt der "Christus der Versöhnung", "El Cristo de la Reconciliación", ungewöhnlich seitengekrümmt am Kreuz. Gläubige werfen dort Münzen in zwei elektrische Kerzenkästen und legen Nelken zu Füßen des Gekreuzigten nieder.
Gemälde an den Wänden des Längsschiffs der Basilika thematisieren Begebenheiten und Mirakel rund um die Candelaria-Jungfrau, die 1564 einen verstorbenen Jungen namens Juan erweckte und bei anderer Gelegenheit einer Frau erschien. Kuriosa der Moderne sind Ventilatoren, die etwa auf Kopfhöhe an den massigen Säulen befestigt sind.
In der Basilika vergisst man leicht die Zeit. Tritt man nach draußen, sticht die Sonne in die Augen, schickt der Atlantik seine Gischt als Gruß herüber. Unterhalb der vorliegenden Promenade tummeln sich handtellergroße Klippenkrabben auf den Lavafelsen. Neben dem Hauptportal des Heiligtums hält eine Losverkäuferin unter ihrem Sonnenschirm die Stellung und macht Glauben, die Nähe zur Candelaria-Jungfrau verheiße besonderes Glück. Die beiden Hirten, die einst das Bildnis der Chaxiraxi fanden, sind übrigens genesen, als sei nichts gewesen.