Missbrauch: Die Mauern des Schweigens sind geschleift
Mit einer Mahnwache vor der Engelsburg endet der erste Tag des weltweiten Bischofstreffens zum Thema Missbrauch. Auf der Grünfläche vor den trutzigen Mauern des antiken Kaisergrabmals und päpstlichen Schutzburg sind gut 20 Opfer von Missbrauch in der katholischen Kirche versammelt sowie ein gutes Dutzend weiterer Unterstützer. "Vigilfeier für Gerechtigkeit" nennen sie das Treffen mit einem mitgebrachten Holzkreuz und dem Gerichtsengel der Engelsburg im Hintergrund. Seit Montag machen rund um den Vatikan Betroffene aus allen Erdteilen auf ihr Anliegen aufmerksam und fordern "Null Toleranz" für Täter und Vertuscher von Missbrauch.
Missbrauchsopfer: "Niemand hat mich angehört"
Heute finden die Opfer Gehör, begleitet von Kamerateams aus aller Welt. Für fast alle von ihnen war das jahrzehntelang nicht der Fall. Wenn jemand - oft erst Jahre später - wagte, davon zu berichten, stieß er auf abweisende Mauern des Schweigens und Leugnens. Jeder der Demonstranten vor der Engelsburg kann davon erzählen - so wie die Opfer von Missbrauch, deren Zeugnisse am Morgen, zu Beginn des knapp viertägigen Anti-Missbrauchsgipfels, in der vatikanischen Synodenaula als Tonaufnahme abgespielt wurden.
Von einem Südamerikaner bekommen die 190 Gipfelteilnehmer zu hören: "Das erste, was sie taten, war, mich als Lügner zu behandeln und zu behaupten, ich und andere seien Feinde der Kirche." Beim Eröffnungsgebet trägt Pater Hans Zollner, Mitglied der Päpstlichen Kinderschutzkommission, ebenfalls eine Aussage vor: "Niemand hat mich angehört, weder meine Eltern, meine Freunde noch später die Kirchenoberen. Sie haben mich und mein Weinen nicht angehört. Warum? Und warum hat Gott mir nicht zugehört?" Im Saal herrscht Stille.
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Die Menschen wollen "von uns nicht nur erwartbare, einfache Verurteilungen, sondern konkrete und wirksame Maßnahmen", gibt Papst Franziskus als Marschziel aus. Auf dem Weg dahin seien Glaube, Redefreiheit, Mut, Klarheit und Kreativität nötig. Die Impulse für den ersten Tag sollen Betroffenheit wecken, aber auch Mut machen, "damit der Kampf gegen Missbrauch und Vertuschung zu einer Herzensangelegenheit wird", wie Zollner betont.
Ein weltweites Problem
Die Stimmungen rund um den Gipfel schwanken zwischen hohen Erwartungen, Enttäuschungen und Signalen guten Willens. "Er ist der Papst; er kann und muss entscheiden, dass ab Montag in der katholischen Kirche weltweit 'Null Toleranz' herrscht - für Täter wie Vertuscher", lautet die wiederholt vorgetragene Forderung des internationalen Netzwerks "Ending Clergy Abuse" (ECA). Wenn ihr Sprecher Peter Isely das vorträgt, klingt es mitunter, als erwarte er eine Zauberformel. Doch die Ungeduld der Opfer aus aller Welt ist verständlich.
"Das ist ein weltweites Problem! Welchem Bischof muss das noch erklärt werden?", empört sich Denise Buchanan aus Jamaika. Aber es ist so. Eine Woche zuvor hatte der Wiener Kardinal Christoph Schönborn in einem TV-Gespräch von einem Mitbruder aus Südeuropa erzählt, der ihm vor Jahren sagte: "Ja, ja, ihr da im Norden, inklusive Papst Benedikt, ihr habt einen anderen Zugang dazu als wir im Süden." Heute denke dieser Kardinal immer noch so, fügte Schönborn resigniert hinzu.
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Um das notwendige Verantwortungsbewusstsein weiter zu schärfen, redet daher Manilas Kardinal Antonio Tagle auf seine Mitbrüder und die zehn Ordensoberinnen ein. "Die Vertuschung des Skandals zum Schutz der Vergewaltiger und der Institution hat unser Volk gebrochen", so der 62-Jährige ergriffen. Es sei nötig, den "ärmlichen Umgang mit diesen Verbrechen" einzugestehen. Die Bischöfe müssten sich bewusst sein, dass sie diese Vergebung nicht verdienten.
"Hausaufgaben, die der Papst uns mitgibt"
Über die bereits vorhandenen Gesetze und Verfahren der Kirche informiert anschließend der vatikanische Chefankläger für Sexualstraftaten, Erzbischof Charles Scicluna. So müssen kirchliche Stellen bei Missbrauchsanzeigen die staatlichen Gesetze beachten und mit der Justiz zusammenarbeiten. Zudem sollten sie unkomplizierte Möglichkeiten für die Anzeige von Missbrauchsfällen schaffen. Die Rückfragen aus dem Plenum dienen einem besseren Verständnis von Details.
Parallel dazu veröffentlicht der Vatikan 21 "Reflexionspunkte", die der Papst zuvor in der Synodenaula verteilen ließ. Dezenter Druck auf die Teilnehmer auch über die Öffentlichkeit. Scicluna sieht sie als "eine Reihe von Hausaufgaben, die der Papst uns mitgibt". Als eine Art Hausaufgabenaufsicht verstünden sich dann die Demonstranten der Opferverbände vor dem Vatikan. Die Mauern des Schweigens sind geschleift; nun sollen auch die des Vertuschens endgültig fallen - damit sie nicht annähernd so lange stehen wie die der Engelsburg.
Treffen zum "Kinderschutz in der Kirche": Denkanstöße des Papstes
Papst Franziskus hat den Teilnehmern des Anti-Missbrauchsgipfels im Vatikan zum Auftakt des Treffens 21 "Denkanstöße" übergeben, über die sie bei dem viertägigen Gipfel diskutieren sollen. Die Vorschläge stammen von Bischofskonferenzen und Kommissionen aus aller Welt.
- Erarbeiten eines praktischen 'Vademecum', in dem Schritte spezifiziert werden, die von kirchlichen Autoritäten in sämtlichen Schlüsselmomenten von Missbrauchsfällen zu unternehmen sind.
- Schaffung von Strukturen zur Anhörung, bestehend aus qualifizierten Experten, in denen auch eine erste Unterscheidung der Fälle der mutmaßlichen Opfer erfolgt.
- Festlegen von Kriterien zur direkten Einbindung des Bischofs oder Ordensoberen.
- Schaffung gemeinsamer Vorgehensweisen, um Anschuldigungen zu prüfen, zum Opferschutz und zum Recht auf Verteidigung der Beschuldigten.
- Information der übergeordneten zivilen und kirchlichen Autoritäten mit Blick auf zivil- und kirchenrechtliche Normen.
- Ausführen periodischer Überarbeitungen der Protokolle und Normen zum Kinderschutz in sämtlichen pastoralen Strukturen; Protokolle und Normen, die auf den Prinzipien von Gerechtigkeit und Nächstenliebe basieren und die integriert werden müssen, damit das Handeln der Kirche auch in diesem Bereich ihrer Mission entspricht.
- Festlegen spezifischer Protokolle zum Umgang mit Anschuldigungen gegenüber Bischöfen.
- Begleitung, Schutz und Sorge für die Opfer, indem diesen sämtliche Unterstützung angeboten wird, die für eine völlige Heilung nötig ist.
- Schärfung des Bewusstseins für Ursachen und Folgen sexuellen Missbrauchs mit Hilfe ständiger Bildungsinitiativen für Bischöfe, Ordensobere, Kleriker und Pastoralreferenten.
- Schaffung von seelsorglichen Wegen, durch Missbrauch verletzte Gemeinschaften zu heilen, sowie von Wegen der Buße und möglichen Wiedereingliederung für Schuldige.
- Stärkung der Zusammenarbeit mit allen Menschen guten Willens und Mitarbeitern von Medien, um tatsächliche Fälle zu erkennen und von falschen zu unterscheiden: Anschuldigungen von Verleumdungen, Groll von Unterstellungen, das Gerede von übler Nachrede (vgl. Papstansprache an die römische Kurie, 21. Dezember 2018).
- Erhöhung des Mindestalters für Eheschließungen auf 16 Jahre [Anm. d. Red.: im allgemeinen Kirchenrecht für beide Geschlechter].
- Festlegen von Vorschriften, die die Mitwirkung von Laien als Experten bei Untersuchungen erleichtern und regeln sowie in den verschiedenen Stufen kirchenrechtlicher Verfahren zu sexuellem Missbrauch und/oder Machtmissbrauch.
- Recht auf Verteidigung: Zu schützen ist auch das natürliche und kirchliche Recht auf Unschuldsvermutung, bis ein Beweis der Schuld des Beschuldigten erbracht ist. Daher muss vermieden werden, Listen von Beschuldigten zu veröffentlichen - auch von Seiten der Diözesen -, bevor Vorermittlungen laufen und ein endgültiges Urteil gefällt ist.
- Einhaltung des traditionellen Prinzips der Verhältnismäßigkeit der Strafe zum verübten Vergehen. Beschluss, dass Priester und Bischöfe, die des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen schuldig sind, ihre öffentlichen Ämter aufgeben.
- Einführung von Regelungen für Seminaristen, Priesteramts- und Ordenskandidaten. Anfängliche und ständige Programme für diese zur Stärkung der menschlichen, geistigen und psychosexuellen Reife sowie interpersoneller Beziehungen und Verhaltensweisen.
- Bei Ordens- und Priesteramtskandidaten Durchführung psychologischer Einschätzungen durch qualifizierte und renommierte Experten.
- Festlegung von Normen, um den Wechsel von Ordens- oder Priesteramtsanwärtern von einem Seminar zum anderen ebenso zu regeln wie den von Priestern oder Ordensleuten von einer Diözese oder Kongregation in eine andere.
- Formulierung obligatorischer Verhaltenskodizes für alle Kleriker, Ordensleute, Hilfspersonal und Freiwillige, um angemessenen Grenzen im Verhältnis persönlicher Beziehungen festzulegen. Spezifizierung nötiger Voraussetzungen für Personal und Freiwillige und Prüfung ihrer Strafregisterauszüge.
- Bekanntmachung sämtlicher Informationen und Daten über die Gefahr von Missbrauch und seine Folgen sowie darüber, wie Anzeichen von Missbrauch erkannt werden können und wie sexuellen Missbrauchs Verdächtige angezeigt werden können. All dies muss in Zusammenarbeit mit Eltern, Lehrern, Fachleuten und zivilen Autoritäten erfolgen.
- Es ist nötig, wo dies noch nicht geschehen ist, leicht zugängliche Einrichtungen zu schaffen, damit Opfer mutmaßlicher Delikte diese anzeigen können: Einrichtungen, die unabhängig sind, auch von den örtlichen kirchlichen Autoritäten, und aus Experten bestehen (Laien wie Geistliche), die in der Lage sind, die Sorge der Kirche gegenüber allen zu vertreten, die sich durch unangemessene Verhaltensweisen von Klerikern verletzt fühlen.