Die gemeine Stadttaube – ein Vogel, der für die Kirche steht
Jedes Jahr gibt der europäische Postverband "PostEurop" ein Motto für die Europamarken aus, und jedes Jahr beteiligt sich auch die Post des kleinsten Staates der Welt daran. Kleine Briefmarken sollen den großen alten Kontinent auf seine gemeinsamen Wurzeln, seine gemeinsame Kultur und Geschichte einschwören. Oft sind es bedeutungsschwangere Themen. "Brücken" war das des Vorjahres. Das vatikanische Amt für Philatelie und Numismatik schickte Petrus auf der römischen Engelsbrücke und den Brückenheiligen Johannes Nepomuk auf der Prager Karlsbrücke ins Rennen. Manchmal sind es auch selbstreferentielle: "Briefe" waren 2008 an der Reihe. Ein Heimspiel für Benedikt XVI., den schreibfreudigsten Papst der Neuzeit, der auch prompt abgebildet wurde.
Dieses Jahr also "Staatsvögel". Während Europa die Mauern hochzieht, wählt der europäische Postverband jene Tiere, die weder Mauern noch Grenzen kennen, die Nord und Süd verbinden, die sich in luftige Höhen aufschwingen und das alltägliche Kleinklein auf der Erde weit unter sich lassen.
Welcher Vogel steht für den Vatikan?
Was ist wohl der Staatsvogel des Kirchenstaats? Ist es vielleicht der majestätische Adler, das Tier, das Johannes im Wappen führt? Der König der Lüfte steht, so Hieronymus, für den Evangelisten, weil der "höher steigt als die anderen und sich in die höchsten Regionen aufschwingt, so wie ein Adler sich zur Sonne erhebt". Kaum zu denken bei einem Papst wie Franziskus, dessen Verkündigung sich ganz auf den Boden der Tatsachen, ganz unten hin zu den Leuten, stellen will.
Oder kann sich die Weltkirche vielleicht an den Vogelarten der Neuen Welt bedienen? Nein, der amerikanische Kardinal ist auf dem absteigenden Ast. Niemand will die eleganten Singvögel aus der Familie der Sperlinge (die immerhin bei gleich zwei Evangelisten biblisch bezeugt sind) heute noch auf ein Podest heben. Unter dem prächtigen roten Gefieder verbirgt sich oft genug auch nur eine Meise.
Oder doch die Bibel: Ein Rabe vielleicht? "Sie säen nicht und ernten nicht, sie haben keine Vorratskammer und keine Scheune; und Gott ernährt sie." Lieber nicht: Auf leistungsfrei wohlgenährte Schwarzkittel will man nun wirklich nicht auch noch mit jedem Brief aus der Zentrale hinweisen.
Die Ratte der Lüfte ist es
Und so ist es also die Taube geworden – nicht Berninis elegante weiße Taube, die den Heiligen Geist im Petersdom auf der Cathedra Petri vertritt. Ganz franziskanisch hat das Amt für Philatelie den bescheidensten, am wenigsten geliebten Vogel genommen, den Vogel, der als Ratte der Lüfte geschmäht wird, mit dem Geruch der Menschen vertraut ist.
Etwas bedröppelt schaut die gemeine Stadtaube den Betrachter der Briefmarke an. Vielleicht wundert sich der einfache Vogel selbst, wie er zu dieser Ehre gekommen ist. Die Taube hat Platz genommen auf einer der Infuln einer steinernen päpstlichen Tiara. Die Troddel aus Stoff, die von der päpstlichen Krone herabbaumelt und die sich um den Schlüssel Petri schlingt, ist ihr zum Sitz geworden: Das höchste Amt der Kirche und der einfachste Vogel der Welt, Ewigkeit und Augenblick für einen kurzen Moment vereint. Der Körper des Vogels ist noch gespannt, sein Blick wachsam und überrascht dem Betrachter zugewandt: Das Papstamt bleibt, die Taube kommt und geht, bald setzt sie sich nieder, bald schwingt sie sich wieder in die Lüfte, sie weht, wie sie will – und vielleicht beflügelt sie das alte Rom ganz neu.
Ein Idealbild der franziskanischen Kirche haben die päpstlichen Postler auf die Briefmarke gehoben – wie der Wolf und das Lamm, die bei Jesaja friedlich-paradiesisch zusammen weiden, und ebenso unerreicht im echten Leben. Im wirklichen Vatikan könnte kaum eine Taube leichtflüglig auf einer Skulptur rasten: An den echten Statuen vergrämen Stacheln den auch im Kirchenstaat geschmähten Vogel. Doch auf der Europamarke des Jahres 2019 geht das: Dort gibt es noch Hoffnung. Auch im siebten Jahr des Pontifikats von Franziskus.