Post aus der Hölle an den Heimatpfarrer
Ein Zufall, dass Martin Lörsch dieses Album in die Hände gefallen ist. Denn als dem Trierer Professor für Pastoraltheologie ein Kompendium von Postkarten angeboten wird, wendet man sich wegen seiner Herkunft an ihn: Lörsch stammt aus dem Koblenzer Stadtteil Niederberg, der vor seiner Eingemeindung 1937 eine selbstständige kleine Gemeinde war. Von dort suchte eine Hinterlassenschaft eine neue Bestimmung. Denn Pfarrer dieser Gemeinde zwar zwischen 1903 und 1934 ein gewisser Peter Stoffel – und der hatte in einem Album Postkarten gesammelt. Feldpostkarten, die Soldaten im Ersten Weltkrieg "nach Hause" schickten – unter anderem auch an ihren Pfarrer. Hundert Stück sind in dem Album zusammengekommen. Für Martin Lörsch Grund genug, die Relikte einer vergangenen Zeit genauer unter die Lupe zu nehmen.
Die Postkarten wurden zum Teil speziell für die Soldaten produziert und sind in ihrer Gestaltung heutigen Ausgaben recht ähnlich: Auf der Vorderseite sind in Schwarz-Weiß-Fotos mit ganz unterschiedlichen Motiven zu sehen. Auf der Rückseite ist etwas Platz, um ein paar Zeilen Text zu notieren.
"Die Soldaten schreiben von ihren Sorgen und Hoffnungen. Sie wollen Trost finden", sagt Lörsch. Dazu gibt ihnen der Pfarrer ganz bewusst eine Möglichkeit. Denn er hält den Kontakt mit seinen "Schäfchen", schickt ihnen regelmäßig Zeitschriften oder kleine Heftchen – Lektüre für die lange Zeit in der Ferne. "Es ist schon eine Art Seelsorge, die er da betreibt", schlussfolgert Lörsch. Denn die jungen Männer bedanken sich nicht nur, es entsteht ein Austausch: Die Soldaten schicken Bilder und Eindrücke zurück.
Vom Sieg zum Frieden
Mal stellen die Fotos auf der Vorderseite der Postkarten in erster Linie Soldaten dar, oft sind es auch die Städte in Frankreich oder der Ukraine, in denen die Soldaten gerade stationiert sind oder sich in Gefangenenlagern befinden. In diesen Städten besuchen sie als gläubige Christen auch die dortigen Kirchen. Je weiter der Krieg voranschreitet, desto mehr häufen sich allerdings auch die Bilder von Soldatenfriedhöfen und zerstörten Städten.
Mit diesen Bildern ändert sich mit der Zeit auch der Ton der jungen Männer. "Im ersten Kriegsjahr steht der Sieg oft noch im Mittelpunkt", so Lörsch, "danach sprechen die Soldaten nicht mehr davon. Dafür geht es dann um Frieden." Manchmal werden auf die Karten sogar kleine Friedenssonnen gemalt. Ein Soldat spricht es auf einer Karte vom März 1918 sogar ganz direkt aus: "Wollte Gott, dass wir bald mit allen Frieden bekämen."
Diese Zerrissenheit zwischen Kriegsbegeisterung und Friedenssehnsucht wird auch klar, wenn in den kurzen Texten von den europäischen Ländern die Rede ist. Denn dass sie "Grüße aus Feindesland" senden, ist für die jungen Männer unbestritten. Doch auch deren Schönheit bleibt ihnen nicht verborgen. "Wenn die Männer mal frei haben, wollen sie die Landschaft genießen, gehen zum Beispiel in Belgien an den Nordseestrand oder schauen sich die Städte an", sagt Lörsch. So schreibt ein Soldat im September 1915 aus dem litauischen Vilnius, es sei "eine große schöne Stadt nach deutschem Muster, viele katholische Kirchen sind hier vorhanden."
"Kriegsgräuel" im "Feindesland"
Zur Kriegswahrheit gehört auch, dass ebenjene Kirchen oft zerstört werden. "Das haben die Soldaten überall als Kriegsgräuel empfunden, als Verletzung eines heiligen Ortes." Zerstörung erleben die Soldaten oft von russischen Truppen. So schildert ein Postkartenschreiber die Situation in Mława, etwa 100 Kilometer entfernt von Warschau: "Hier kann man schon so recht die Gräuel eines Krieges erkennen. Die Russen haben hier zahlreiche Häuser in Trümmerhaufen verwandelt – sonst sieht man hier arme, elende Hütten."
Was in den Karten nicht vorkommt: die Vorgeschichte solcher Zerstörungen. Kampfhandlungen blenden alle Schreiber aus. "Die Soldaten waren sich bewusst, dass es eine Zensur gab und sie nicht alles schreiben durften", weiß Lörsch. In anderen Fällen sind die Erlebnisse wohl aber auch schlicht nicht vermittelbar gewesen. Geschätzt drei Viertel aller Kriegsgefallenen sind durch Artilleriebeschuss ums Leben gekommen. Die Soldaten müssen also nicht wenig Zeit damit verbracht haben, zerfetzte Körper zu bergen. Außerdem stehen Gewalt und Vergewaltigung auf der Tagesordnung des Krieges. Nicht zuletzt in Anbetracht dieser Traumata verschweigen die jungen Männer wohl das Kampfgeschehen.
Kraft im Glauben
In dieser Atmosphäre ist der "Draht" zur Heimat durch die Post des Pfarrers wie auch das Glaubensleben an sich nicht zu unterschätzen, so Lörsch. Gottesdienste und Gebete seien für die jungen Männer Kraftquellen. Die Briefe des Pfarrers spannen einen Bogen zum heimischen Glaubensleben. "Weil ein Soldat sonntags morgens die Stellung halten musste, konnte er nicht zur Messe gehen. Den Brief des Pfarrers bezeichnet er dann als Ersatz dafür, als eine Art Predigt", so Lörsch.
Nur manche der jungen Männer flüchten sich in eine schwärmerische Frömmigkeit, der Großteil der Soldaten bleibt auch in Kriegszeiten "nüchtern", so Lörsch. Die in der Regel aus einfachen Verhältnissen in einem kleinen Dorf "ab vom Schuss" stammenden Männer geben in den wenigen Zeilen auf den Postkarten einen kleinen Einblick in ihre Gedankenwelt. Die ist trotz aller Feindbilder von der Hoffnung auf Frieden erfüllt. Schon mitten im Krieg denken die jungen Männer vor allem an die Zeit nach der Gewalt. Nicht zuletzt gestützt vom Glauben hoffen sie auf ein "frohes Wiedersehen". Die Post des Pfarrers als besondere Seelsorge ist da Stütze und Ablenkung vom schrecklichen Geschehen. Ein Soldat schreibt: "Nun sehe ich auch, dass ich nicht vergessen bin." Doch es gibt auch Lichtblicke, etwa hohen Besuch: Denn der damalige Speyrer Bischof Michael von Faulhaber kommt 1915 zu den Soldaten an die Westfront – dazu gibt es Zigarren, "sonstige Sachen" und eine Ansichtskarte, die den Pfarrer erreicht.