Genn: Wir haben an Relevanz für das Leben der Menschen verloren
Nach der Veröffentlichung der dramatisch angestiegenen Zahl der Austritte aus der katholischen Kirche in Deutschland haben sich führende Kirchenvertreter am Freitag betroffen gezeigt und zugleich verschiedentlich den Willen zu Veränderungen betont.
Der Generalvikar des Erzbistums München und Freising, Peter Beer, rief dazu auf, die veröffentlichten Zahlen als Ansporn zu verstehen: "Wir müssen überlegen, warum wir zu so vielen Menschen den Kontakt verloren haben. Wie können wir unsere Angebote qualitativ besser machen? Wie können wir Menschen erreichen?" Dabei gelte es, nicht nur entlang des bestehenden Angebots zu denken, sondern die aktuellen Bedürfnisse der Menschen wahrzunehmen. "Wir müssen spürbar machen, dass der christliche Glaube wirklich Sinn stiftet und dem Leben eine gute Richtung gibt", so Beer.
Erzbischof Schick vermutet zurückgehende Kirchenbindung als Ursache
Bambergs Erzbischof Ludwig Schick ergänzte, die tieferliegende Ursache dürfte die zurückgehende Kirchenbindung sein. Die Austrittszahlen und die Anzahl der Taufen könnten durch gute Seelsorge und missionarisches Wirken beeinflusst werden. "Wir müssen die Statistik als Weckruf zu mehr Engagement für das Evangelium und den Glauben betrachten. Wir brauchen neue Impulse in der Pastoral, insbesondere bei der Seelsorge für Familien, damit Eltern ihre Kinder taufen lassen und in die Kirche einführen."
Der Augsburger Diözesanadministrator Bertram Meier erklärte, außer den hohen Austritten bewege ihn vor allem der Rückgang der Gottesdienstbesucher. "Er ist schleichend, zeichnet sich seit Jahren ab und macht mir große Sorge." Diese Entwicklung "hält uns den Spiegel hin und stellt uns die Frage: Wie heilsam sind unsere liturgischen Feiern, wie getröstet gehen die Menschen davon weg?"
„Es geht ganz offensichtlich um die Glaubwürdigkeit der Kirche.“
Würzburgs Bischof Franz Jung konstatierte: "Es geht ganz offensichtlich um die Glaubwürdigkeit der Kirche." Kirchliches Tun stehe zusehends unter dem Zustimmungsvorbehalt des Einzelnen. "Als Kirche sind wir aufgefordert, uns selbst zu bekehren und Anstrengungen zu unternehmen, in einer Welt mit vielen Sinnangeboten Menschen für Christus zu gewinnen."
Passaus Oberhirte Stefan Oster sagte, jeder Austritt schmerze. "Natürlich spielen die Missbrauchskrise und manche öffentlichen Debatten dabei eine wichtige Rolle. Und wir müssen hier konsequent die Betroffenen im Blick haben und um unsere eigene Erneuerung ringen." In der aktuell "schnelllebigen und oft oberflächlichen Welt" hätten die großen Fragen nach Sinn, Tiefe, Leid und Tod, für die die Kirche stehe, oft keinen Raum. Oster appellierte an die Menschen: "Bleiben Sie! Bringen Sie sich ein, ringen Sie mit Ihrer Kirche. Und vor allem: Suchen Sie die Begegnung mit dem, der die Mitte von Kirche ist und bleibt: Jesus Christus!"
Hanke: Wir müssen noch mehr auf die Menschen zugehen
Der Eichstätter Bischof Gregor Maria Hanke forderte: "Wir müssen noch mehr auf die Menschen zugehen und ihnen zeigen, dass dieser Weg in der Gemeinschaft des Glaubens Sinn macht." Der "unsägliche Missbrauchsskandal" und der Finanzskandal in seiner Diözese hätten viel Vertrauen nachhaltig beschädigt. Mit der "rückhaltlosen Aufklärung" der Skandale unternehme man große Anstrengungen, der Frohen Botschaft den Weg in die Herzen der Menschen zu ebnen.
Der Berliner Erzbischof Heiner Koch kündigte an, weitere Anstrengungen zu unternehmen, um verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen. Zugleich dankte der Oberhirte allen Menschen, "die in unserer sich so rasch verändernden Gesellschaft sich weiterhin als Kirche verstehen und zur Kirche stehen, häufig mit einem hohen persönlichen und finanziellen Einsatz".
Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf sagte, offenbar seien neben persönlichen Gründen "auch Skandale ein entscheidender Auslöser" für die Austrittszahlen. Menschen entschieden sich, die Kirche zu verlassen, "weil sie massiv enttäuscht sind und die Vertreter der Kirche nicht mehr als glaubwürdige Zeugen annehmen können“. Kohlgraf sagte mit Blick auf den Missbrauchsskandal: "Gerade im Hinblick auf die Verbrechen gegen Kinder, Jugendliche und Schutzbefohlene hat die Kirche viel von ihrer Glaubwürdigkeit verloren." Auch traditionelle Argumente "bei den sogenannten Reizthemen wie Frauenordination, Homosexualität oder Zölibat" überzeugten viele Menschen nicht, so der Mainzer Bischof. Hinzu kämen persönliche Enttäuschungen, die Menschen mit Amtsträgern in der Kirche erlebt hätten, etwa in Zusammenhang mit einem Trauerfall.
"Wir haben an Relevanz für das Leben der Menschen verloren", sagte der Münsteraner Bischof Felix Genn. Die Zahlen ließen sich nicht schönreden. "Die Menschen stimmen mit den Füßen darüber ab, ob sie uns für glaubwürdig und vertrauensvoll halten und ob die Gemeinschaft in der katholischen Kirche ihnen grundsätzlich als notwendig für ein gutes und gelingendes Leben erscheint." Das gelte für viele leider nicht mehr, so der Bischof. Sicher sei die im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie zum Missbrauch in der katholischen Kirche bei vielen Menschen das auslösende Moment gewesen seien, der Kirche den Rücken zu kehren, so Genn.
"Die Zahlen sind nicht schön, aber sie entmutigen mich nicht"
"Die Zahlen sind nicht schön, aber sie entmutigen mich nicht", sagte Bischof Heiner Wilmer. Die Entscheidung zum Kirchenaustritt sei zumeist ein langer Prozess. Die Kirche müsse daraus lernen. So müssten vor allem die selbstverschuldeten Skandale aufgearbeitet und durch ein "effektives System von Kontrolle und Gewaltenteilung" zukünftig unmöglich gemacht werden. Darüber hinaus müsse die Kirche offen sein für den Dialog mit den Gläubigen und ihnen Wertschätzung entgegenbringen, so der Bischof. Das gelte besonders für von ihnen vorgebrachte Kritik.
Auch der Rottenburger Weihbischof Matthäus Karrer bezeichnete die Veröffentlichung der Missbrauchsstudie als Grund für die gestiegenen Austrittszahlen. Er verlangte, der von der katholischen Kirche in Deutschland geplante "synodale Weg" müsse "ernsthaft, konsequent und auch mit greifbaren Ergebnissen" angegangen werden.
„Wir wissen, dass die klassische Form des Kirche-Seins an vielen Stellen nicht mehr mit der Lebensrealität der Menschen zusammenpasst.“
Kölns Generalvikar Markus Hofmann sagte: "Wir wissen, dass die klassische Form des Kirche-Seins an vielen Stellen nicht mehr mit der Lebensrealität der Menschen zusammenpasst und wir daher manche Menschen nicht mehr erreichen." Gleichzeitig werde es für viele Menschen immer wichtiger, die Kirche wieder als Gemeinschaft von Gläubigen zu entdecken, anderen zu helfen, für andere da zu sein. "Genau das gehört doch zu den Dingen, die unserem Leben einen tieferen Sinn geben", so Hoffmann.
"Diese vielen Austritte schmerzen natürlich sehr, nicht nur mich allein, sondern auch alle, die sich in unserer kirchlichen Gemeinschaft beheimatet fühlen und in dieser Gemeinschaft mit der Kirche leben, denken und fühlen", sagte der Paderborner Generalvikar Alfons Hardt. Die hohe Zahl der Kirchenaustritte liege vermutlich auch im Skandal des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen im Raum der Kirche begründet. "Ich kann die damit verbundene Verletzung und Enttäuschung nur allzu gut verstehen", so Hardt. Der Fuldaer Generalvikar Gerhard Stanke sprach von "großen pastoralen Herausforderungen", vor denen die Kirche angesichts der vielen Austritte stehe.
"Wir müssen lernen, die Botschaft des Evangeliums neu zu erzählen"
Triers Verwaltungsleiter Ulrich Graf zu Plettenberg forderte angesichts der hohen Austrittszahlen "neue Schritte", um die Botschaft von Gott, der sich den Menschen zuwende, wieder mehr ins Spiel zu bringen. "Dazu ist es dringend notwendig, etwas zu verändern: Haltungen, Arbeitsweisen, aber auch Strukturen." Es schmerze sehr, dass so viele die Erfahrung machten, dass Kirche sie in ihren konkreten Lebensumständen nicht mehr anspreche. Ähnlich äußerte sich auch der Generalvikar des Bistums Aachen, Andreas Frick. "Es ist eindeutig, dass wir viele Menschen nicht mehr erreichen. Wir müssen lernen, die Botschaft des Evangeliums neu zu erzählen."
Georg Franz, stellvertretender Generalvikar des Bistums Limburg, betonte: "Der sexuelle Missbrauch und der Umgang der Kirche mit dem Missbrauch schlagen sich in den Zahlen der Austritte deutlich nieder. Der Protest der Menschen ist hier unverkennbar." Viele Menschen hätten zudem weiter Vertrauen in die Kirche verloren. Zudem spiegelten sich in den Zahlen langanhaltende gesellschaftliche und kirchliche Entwicklungen wider. Neben einer zunehmend älter werdenden Mitgliederschaft spielten Kirche und Glaube im Leben vieler eine immer kleinere Rolle. Die Kirche müsse "realistisch auf unsere Zeit blicken und entschieden und aktiv missionarische Wege gehen", so Franz. (stz/KNA)