Wenn der Priester an seinem Bild zerbricht
Wenn es um die Jobbeschreibung des Priesters geht, ist die Bibel eigentlich recht klar: "Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein." (Mk 9,35) Ein Diener soll der Priester sein, das hält auch das Zweite Vatikanische Konzil fest. In der Konstitution "Lumen gentium" steht zwar auch, dass der Priester das Volk leitet und heranbildet. Es heißt aber weiter: "Die Amtsträger, die mit heiliger Vollmacht ausgestattet sind, stehen im Dienste ihrer Brüder, damit alle, die zum Volke Gottes gehören und sich daher der wahren Würde eines Christen erfreuen, in freier und geordneter Weise sich auf das nämliche Ziel hin ausstrecken und so zum Heile gelangen." (Nr. 18)
Der Priester soll es den Gläubigen durch Sakramente und Fürsorge ermöglichen, ihr Priestertum zu leben – also ihren Glauben in die Welt zu tragen. In den Köpfen der Menschen – und auch denen so mancher Kirchenmänner – sieht die Welt aber etwas anders aus: Da steht der scheinbar allmächtige Priester an der Spitze seiner Pfarrei, darf schalten und walten wie er will und ist Gläubigen wie Mitarbeitern übergeordnet.
Diese hervorgehobene Stellung des Pfarrers gibt es in der Kirche nicht von Anfang an. In der Spätantike und dem frühen Mittelalter werden keine großen Unterschiede zwischen Priestern und Laien gemacht. Die Ausbildung zum Geistlichen beschränkt sich auf eine Einweisung in die Bibel und die Einübung des Kirchendienstes. Erst nach und nach entwickelt sich eine spezielle Ausbildung für Geistliche und damit eine scharfe theologische Abgrenzung zwischen Klerikern und Laien. So schreibt der einflussreiche Mönch Gratian in seinem Werk "Decretum Gratiani" aus dem Jahr 1142, dass Priester sich vor allem dem Gebet widmen und frei von weltlichem Lärm sein sollten.
Die Herausforderung der Reformation
Von der Reformation herausgefordert, werden für die Qualität der Priesterausbildung neue Leitplanken gesetzt: Angehende Priester sollten nun entweder eine Universität oder ein eigens eingerichtetes Seminar besuchen. Diese Anweisung des Konzils von Trient aus dem Jahr 1563 konnte sich aber erst nach und nach durchsetzen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gehören Priester dann ganz selbstverständlich zur Spitze der Gesellschaft. Schließlich verfügen sie über eine überdurchschnittliche Bildung, haben oft ein gesichertes Einkommen und gehören als Kopf der Kirchengemeinde zu den tonangebenden Honoratioren.
Durch die Krise der Französischen Revolution sind kirchliche Strukturen dann vielerorts zerstört. Die Kirche muss sich neu definieren – auch in Abgrenzung zu den Protestanten. Dazu rückt der Priester in den Fokus, dessen Amt zu diesem Zeitpunkt spirituell überhöht wird: In einer Umdeutung der Konzilsbeschlüsse von Trient müssen Priester jetzt sowohl eine Universität als auch ein Seminar besuchen, zudem sorgt der nun in vorher nicht gekannter Verbindlichkeit eingeforderte Zölibat für eine "Entweltlichung". Das gipfelt in Kommentare wie denen des heiligen Pfarrer von Ars, Jean-Marie Vianney: "Nach Gott ist der Priester alles! Erst im Himmel wird er sich selbst recht verstehen." Diese Einstellung wird in Deutschland auch nach dem Zweiten Weltkrieg aufrechterhalten. Nach dem Ende der NS-Herrschaft findet sich die Kirche dann in einer quasi unwidersprochenen, exponierten Stellung wieder.
Die Wende kommt erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965). In der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" sieht sich die Kirche als in der Welt agierende Institution, die auch die Entwicklung der gesamten Gesellschaft beeinflussen und bereichern will. (Nr. 44) In der Folge entsteht eine Generation Priester, die das Hineinwirken in die Gesellschaft als Kernpunkt ihrer Aufgabe versteht und für die die Nähe zu den Gläubigen zentral ist. Doch sie sind noch in eine Volkskirche eingebunden, stehen in der Mitte eines dichten sozialen Netzes, das vom Glauben zusammen gehalten wird und sie in ihrem Amt trägt und unterstützt.
Dieses Netz gibt es heute in der Form nicht mehr. Mit den wachsenden Pfarrstrukturen geben sie immer mehr Managementaufgaben an professionelle Verwalter ab und werden in erster Linie Seelsorger sein. Das Problem: Für dieses Priesterbild gibt es, so paradox es klingt, kaum Vorbilder. Das sagt der Pastoralpsychologe und -soziologe Christoph Jacobs von der Theologischen Fakultät Paderborn. Weder in den Köpfen der Priester noch in denen der Gläubigen ist dieser Funktionswandel seiner Meinung nach bereits vollständig angekommen. Über allem schwebe noch das Bild des herrschenden "Pfarrherrn", der einen unwidersprochenen Machtanspruch gegenüber seinen "Schäfchen" verteidigt.
Aus der Priesterausbildung kennt Jacobs andererseits auch die Angst der jungen Männer, eine ganz neue Identität des geistlichen Amts selbstständig mit Leben füllen zu müssen: als wirklich Dienender, der den Menschen auf Augenhöhe gegenübertritt und ihnen mit dem Glauben ein Angebot macht, mitten unter den Menschen ist. Denn noch gibt es wenige attraktive Formen erprobter Partizipation und gemeinschaftlichen Lebens und Handelns von Priestern und Gläubigen in der Seelsorge. So gibt es auch kaum Alternativen zum allein im Pfarrhaus wohnenden Pfarrer, der damit auch sowohl physisch als auch mental von den Gläubigen entfernt ist. Neue Wege in der priesterlichen Lebenskultur entwickeln sich ebenso erst wie im Miteinander in der Seelsorge. Das verunsichert viele Priester. "Manche wissen gar nicht so recht, wer sie eigentlich sind."
Zu den "hauseigenen" Problemen kommt die teilweise mangelnde Wertschätzung der Gesellschaft. Statt geachtet werden Priester heute oft kritisch beäugt: wegen ihrer zölibatären Lebensform, wegen aktuellen Skandalen in der Kirche oder einer allgemeinen "Rückständigkeit" – etwa mit Blick auf die Sexualmoral. "Wir alle unterliegen einem Pauschalverdacht", sagte jüngst etwa der Paderborner Personaldezernent Andreas Kurte, der selbst seit rund 20 Jahren Priester ist.
Weniger Macht, mehr Rechtfertigung
Wegen neuer, größerer Pfarrstrukturen sind immer weniger Priester mit früheren klassischen Leitungsaufgaben betraut. Denn die stetig wachsenden Konstrukte haben nur ein einziges nominelles "Oberhaupt", alle anderen Priester sind Teil des Seelsorgeteams. Doch auch diejenigen, die als Pfarrer leiten, geben vielerorts die Managementaufgaben ab. So gibt es für die organisatorischen Abläufe von Pfarreien in vielen Bistümern längst eigens angestellte Verwaltungsprofis. Das "alte Bild vom Chef" passt für viele Priester also oft nicht mehr, dieses klassische Bild gilt nur noch für einen Teil der Geistlichen. "Das eigentlich wichtige geistliche Amt der Leitung haben alle Priester, das funktionale Amt des leitenden Pfarrers nur einer."
Diese Zerrissenheit zwischen dem überkommenen Bild vom Pfarrherrn der kleinen Pfarrgemeinde und einer noch unausgereiften neuen Identität als Begleiter und spirituelle Führungskraft macht Priestern zu schaffen. Bei einer Studie zur Situation von Seelsorgern (2015), bei der auch Jacobs mitgearbeitet hat, kam heraus: Unter Stress, Unzufriedenheit und Burn-out-Erscheinungen leiden aktuell nicht in erster Linie die leitenden Pfarrer, sondern die Priester "in der zweiten oder dritten Reihe" – also diejenigen, "von denen gesagt wird, dass sie das Privileg haben, von Managementaufgaben entlastet zu sein und bevorzugt ‚normale Seelsorge‘ machen zu dürfen", so Jacobs.
„Das eigentlich wichtige geistliche Amt der Leitung haben alle Priester, das funktionale Amt des leitenden Pfarrers nur einer.“
Der Pastoralpsychologe findet, dass Priester von heute deshalb mit neuen Prioritäten ausgebildet und geschult werden müssen: "Sie sollen mehr begleiten als managen. Sie brauchen eine spirituelle Führungskompetenz und Stärke in der Kooperation." Anstatt Anweisungen zu geben, müssten sie eine natürliche, geistliche Autorität entwickeln. "Sie müssen so authentisch sein, dass sich andere in aller Freiheit mit ihnen identifizieren wollen." Als Zeugen des Evangeliums sollen sie mit ihrem Lebenszeugnis für den Glauben stehen und ihn so innerhalb und außerhalb der Kirche den Menschen anbieten. Keine leichte Aufgabe. "Anderen einfach etwas zu diktieren, ist natürlich einfacher, aber auch weniger spannend", glaubt Jacobs. "Vor allem braucht es eine geistliche und missionarische Kompetenz. Das sind die neuen Führungsqualifikationen!".
In den Augen des Pastoralpsychologen ist deshalb eine intensive Begleitung vor und nach der Ausbildung notwendig: mit Kursen zu geistlicher Begleitung, zu Gesprächsführung, zu Techniken partizipativer Führung und zu missionarischem Handeln. Das sei das Rüstzeug, das heutige Priester brauchen, um ihrer neuen Aufgabe auch gerecht zu werden. Die Begleitung der Priester dürfe deshalb nicht mit dem Priesterseminar enden. Denn um eine gefestigte Persönlichkeit zu entwickeln, brauche es Zeit – gerade auch in den ersten Berufsjahren. Die Priester müssten innerlich wachsen, dafür sind auch geeignete Räume notwendig. In der Ausbildung habe sich in den vergangenen Jahren schon viel getan. Diese Bemühungen sind aber noch nicht am Ende: "Heutige Priesteramtskandidaten werden auf ihre Aufgabe besser vorbereitet als ihre Vorgänger: aber da bleibt immer noch Luft nach oben!"
Jacobs findet allerdings auch, dass viele Gläubige ihren Blickwinkel ändern müssen. Trotz aller Rufe nach Reformen hingen viele verdeckt noch am Klischee des allmächtigen Pfarrers. So sei es für Seelsorger sehr schwer, aus diesem Konstrukt herauszukommen. "Es muss mehr wertgeschätzt werden, dass ein Priester überhaupt da ist – und nicht nur sein Funktionieren beurteilt werden. Wichtig am Priester ist, dass er auf Christus verweist und überzeugend lebt – nicht, dass er gut funktioniert!" Das schließe die Anerkennung der priesterlichen Lebensform inklusive des Zölibats ein. Wenn das nicht geschehe, würden Priester weiter nach Anerkennung hungern. "Das wird nicht funktionieren. Wer aber Wertschätzung erfährt, der gewinnt Lebenssicherheit, Führungsstärke und die Souveränität für eine Kooperation auf Augenhöhe."