Warum da Vincis "Abendmahl" noch immer begeistert
Wer dieses Bild sehen will, muss sich mindestens eine Woche im Vorhinein anmelden, um dann maximal eine Viertelstunde im gleichen Raum wie dieses Werk zu sein. Dabei ist Leonardo da Vincis "Abendmahl" sowieso in allen Köpfen. Werbekampagnen, Kunstwerke und Albencover haben sich vom weltberühmten Aufbau dieser Tischgesellschaft bereits inspirieren lassen. Wenn es sich anstatt von Jüngern um leicht bekleidete Models an der Tafel handelte, sorgte das in den vergangenen Jahrzehnten regelmäßig für Entrüstung.
Dabei befindet sich das über 500 Jahre alte Bild alles andere als im besten Zustand. Als da Vinci es zwischen 1494 und 1497 malte, war die Wand bereits feucht. Außerdem experimentierte er mit organischen Temperafarben – keine gute Kombination. Schon zu seinen Lebzeiten verfiel das Bild und musste mehrmals restauriert werden, zuletzt zwischen 1978 und 1999. Zudem sind die Füße der Jesusfigur nicht mehr zu sehen, seit in der Mitte der Wand eine Tür eingebrochen wurde, die mittlerweile wieder vermauert ist. Trotzdem beeindruckt das Bild bis heute.
Darstellungen des letzten Abendmahls gab es auch am Ende des 15. Jahrhunderts bereits zu Hauf. Das Motiv war naheliegend, als da Vinci vom Mailänder Herzog Ludovico Sforza den Auftrag für ein Gemälde für das Refektorium des Mailänder Kloster Santa Maria delle Grazie bekam. Denn der ikonische Moment des Brotbrechens beim Paschamahl ist die Grundlage für die Eucharistie, die Mönche sollten sich bei jeder Mahlzeit daran erinnern.
Mehrere neue Wege
Leonardo beschritt bei seiner Version gleich in mehrerer Hinsicht neue Wege. So wählte er nicht den Moment des eigentlichen Mahls, in dem Jesus das Brot bricht und den Wein seinen Jüngern anbietet. Sondern er stellt die Situation danach dar, in der es um den Verrat geht. "Und während sie aßen, sprach er: Amen, ich sage euch: Einer von euch wird mich ausliefern" (Mt 26,21). Schon Matthäus berichtet dann von beinahe tumultartigen Szenen. "Da wurden sie sehr traurig und einer nach dem andern fragte ihn: Bin ich es etwa, Herr?" (Mt 26,22). Da Vinci zeigt die Jünger außer sich, aufbrausend, entsetzt. Von der Atmosphäre des traditionellen jüdischen Mahls ist nicht mehr viel übrig.
Doch die Jünger diskutieren nicht alle miteinander, sondern wurden von Leonardo in vier Dreiergruppen zusammengefasst. Ganz links sitzt der empörte Bartholomäus, Jakobus neben ihm ist völlig entsetzt, während Andreas die Hände erhebt. Daneben lehnt sich Petrus fragend zu Jesu Lieblingsjünger Johannes herüber, wer denn wohl gemeint sei. Johannes ist als "Jünger, den Jesus liebte" unverdächtig und dementsprechend gelassen. Etwas von ihnen weg lehnt sich Judas – das Säckchen mit den 30 Silberlingen noch in der Hand. Auf dem Bild rechts von Jesus hebt Thomas drohend den Finger und Philippus zeigt, seine Unschuld beteuernd, auf sich. Beide werden durch Jakobus von Jesus zurückgehalten. Ganz am Ende des Tisches weist Matthäus ungläubig auf Jesus, während Thaddäus und Simon der Zelot die Köpfe zusammenstecken.
Von all dem Trubel isoliert sitzt Jesus mit auf dem Tisch ausgebreiteten Händen in der Mitte. Er ist allein und in sich gekehrt. Dabei bildet er das Zentrum der gesamten Komposition. Ein weiterer Kniff Leonardos. Er benutzt die für seine Zeit sehr neue Technik der mathematischen Perspektive und baut den Raum nach optischen Fluchtlinien auf. Damit verlängert er das Refektorium in das Bild hinein und bezieht wiederum den wirklichen Raum auf den Raum im Bild. Denn die Lichtquelle des Bildes befindet sich vorne links, wo sich im Refektorium die Fenster befinden.
Wie religiös ist das "Abendmahl"?
Da Vincis Bild hat immer wieder zu Spekulationen eingeladen, auch fernab von Bestsellern wie Dan Browns Roman "Sakrileg" und der darauf basierenden Hollywood-Verfilmung. Es wurde immer wieder gefragt, ob hier wirklich der religiöse Moment im Vordergrund steht oder ob die biblische Szene nicht nur Vorwand für ein ganz anderes Interesse des Malers ist. Über Leonardos eigene Spiritualität ist wenig bekannt – wohl bekannt ist aber, dass er die menschliche Natur erforschte und sogar Leichen aufschnitt. Der Mensch stand im Zentrum seines Interesses. Nicht umsonst hat er also die Apostelfiguren genutzt, um an ihnen ganz unterschiedliche Gemütszustände zu zeigen, den Mensch in seiner emotionalen Zerrissenheit darzustellen.
Was stand für den Maler an erster Stelle? Das lässt sich nicht mehr rekonstruieren, der sonst sehr schreibfreudige da Vinci äußert sich dazu nicht. Was sich am Bild aber erkennen lässt: Durch die Gegensätze der aufgebrachten Jünger zum ruhenden Jesus, seiner Vereinzelung gegen ihre Gruppenbildung entsteht eine Spannung, die die Szene weitab frommer Illustration darstellt. Dazu kreiert Leonardo einen weiten, bis dahin beinahe ungekannten wirklichkeitsechten Raum in seinem Gemälde, der den Blick auf Christus zieht – der Mittelpunkt des Bildes liegt genau auf Jesu rechter Schläfe. All das sorgt dafür, dass sich das "Abendmahl" in Auge und Kopf festsetzt und nicht wie so viele andere Bilder von den Jahrhunderten verschluckt wird.