Neue Arbeits- und Streitkultur kann Impulse für die Kirche liefern

Die digitale Revolution: Eine ungeahnte Chance für das Evangelium

Veröffentlicht am 23.10.2019 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 
Debatte

Bonn ‐ Die Digitalisierung verändert die Anforderungen an den Menschen. Gefragt sind plötzlich offene Kommunikation, Kooperationsfähigkeit und eine effiziente Streitkultur. Daraus ergeben sich unerwartete Möglichkeiten für die Kirche, schreibt der Zukunftsforscher Erik Händeler in einem Gastbeitrag.

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Das Himmelreich können wir uns nicht verdienen. Aber wie wir uns gegenüber anderen verhalten, das ist vor Gott wichtig: Ob jemand sein Eigeninteresse mit Ellenbogen verfolgt, unabhängig von den Bedürfnissen anderer, sie gar benutzt und ausbeutet; ob jemand wahrhaftig ist oder den anderen täuscht; ob jemand die Balance findet zwischen seinen eigenen berechtigten Interessen und dem Allgemeinwohl. Das Leben ist der Zeitabschnitt, in dem wir uns in Freiheit für das Gute entscheiden können – was sich erst im Zusammenspiel mit anderen zeigt.

Die Bauern des Mittelalters folgten den vorgegebenen Ackerfurchen und hatten kaum etwas zu entscheiden. Die Arbeiter der Industrialisierung vegetierten neben der Maschine dahin. Doch jetzt in der Wissensgesellschaft, in der die Menschen ständig mit anderen über Einzelinteressen hinweg größere Projekte bearbeiten, gerät der Blick auf das Verhalten des Einzelnen in das Zentrum der wirtschaftlichen Entwicklung. Damit bekommt das Evangelium eine neue Chance, erzählt, bedacht und umgesetzt zu werden.

Längst haben die elektronisch gesteuerten Maschinen die meiste materielle Arbeit übernommen, und Computer leisten die strukturierte Wissensverarbeitung wie Gehaltsabrechnung oder Robotersteuerung. Was an Beschäftigung wächst, ist die Arbeit am Menschen und die Arbeit mit Wissen: planen, organisieren, beraten, verstehen was der Kunde meint; unterschiedliche Kompetenzen zusammenzufügen, um ein Problem zu lösen. Das hat andere Regeln für Produktivität als früher an der Stanzmaschine: Umgang mit Wissen ist Umgang mit anderen Menschen, die man unterschiedlich gerne mag, unterschiedliche gut kennt und mit denen man unterschiedliche berechtigte Interessensgegensätze hat. Ihr Zusammenwirken – oder ihr destruktives Verhalten – bestimmen den Wohlstand: Weniger die Technik, als vielmehr die Menschen hinter der Digitalisierung entscheiden über das Maß an Ressourcen, die uns für Soziales, Bildung und Infrastruktur bleiben. Wenn zwei Abteilungsleiter nicht mehr miteinander reden, hilft keine Technologie.

Erik Händeler
Bild: ©Privat

Erik Händeler ist Wirtschaftsjournalist und Zukunftsforscher.

Genau hier ist eine neue Wachstumsgrenze entstanden: Meinungsverschiedenheiten arten zu Machtkämpfen aus, die bis zur Rente nicht mehr versöhnt werden; Mobbing, Partisanenkämpfe, Lügen fressen die innerbetrieblichen Ressourcen. Überleben werden am Markt jene Firmen, in denen Wissensarbeit zu geringeren Kosten geleistet wird. Das geht nur mit bestimmten Eigenschaften: offene und ehrliche Kommunikation, flache Hierarchien, Kooperationsfähigkeit, Versöhnungsbereitschaft, sowie eine effiziente Streitkultur. Wissensarbeit benötigt ein Klima, in dem sich der einzelne nach seinen Gaben frei entfalten kann; aber nicht für sich, seine Karriere und seine eigenen Kostenstelle, sondern für das Wohl des Ganzen.

Vom früheren Gruppendruck zum Individualismus

Dass die dafür nötige Universalethik zu wenig verbreitet ist, wundert nicht, wenn man sieht, wo wir herkommen: Früher musste sich der Einzelne der Gruppe unterordnen, andere Gruppen wurden gemeinsam bekämpft – Beispiele sind Nationalsozialismus, Kommunismus, religiöse Gruppenethiken ("Wir sind die Rechtgläubigen, die anderen können vernichtet werden"). Als solch eine Gruppenethik aber wurde das Christentum in vielen Jahrhunderten gelehrt und politisch instrumentalisiert – so wie heute noch in den meisten Kulturen auf diesem Planeten. Wertevermittlung glich eher einer Dressur als eigener Reflexion.

Mit Auto, Computer und stark gewachsenem Wohlstand war es nun möglich, die unberechtigten Fesseln von Religion, Nationalismus und familiärem Druck abzuschütteln. Wenn einem die Predigten am Ort nicht gefielen, konnte man nun mit dem VW-Käfer zwei Dörfer weiter fahren – Technik und Wirtschaft sind der Grund, warum sich Kirche und Glauben so ausdifferenziert haben. Je komplexer die Arbeitswelt wurde, umso mehr musste sich ein Fachmann auch gegen andere Meinungen im Team mit seinen Argumenten behaupten – Individualismus war eine Voraussetzung für eine produktivere Gesellschaft. Doch Individualismus kann auch destruktiv sein: "Ich mache, was ich will, was mir guttut, und verfolge meine Interessen" – in der Spitze entsteht ein Egoismus, der sich auch auf Kosten anderer bereichert, dem das Allgemeinwohl egal ist, für den nur die eigene subjektive Wahrnehmung zählt.

Digitaler Fortschritt
Bild: ©shevchukandrey – stock.adobe.com

Der digitale Fortschritt erfordert von den Menschen andere Fähigkeiten.

Wenn konservative Kirchenleute meinen, der Individualismus sei schuld, dass die Kirchen so leer geworden sind, dann irren sie: Er ist ein nötiger Entwicklungsschritt auf dem Weg zur Gottes- und Nächstenliebe. Denn nur wer eigenständig reflektiert, hat auch belastbare Werte für sein Verhalten. Böses zu tun gehört zur Freiheit, in die Gott uns stellt: Wir sind nicht die Haustiere vom lieben Gott, die im Käfig "Männchen" machen müssen, um Futter zu bekommen; das Himmelreich ist keine Zwangshochzeit. Denn Liebe ist nur echt, wenn sie in Freiheit erwählt wird. Deswegen sitzt da auch kein Gott sichtbar auf der Wolke. Denn dann würde kein Finanzhai mehr Schrottpapiere verkaufen, kein Internet-Troll würde mehr Hasskommentare schreiben. Ein Gott, der beweisbar wäre, wäre nicht Gott, denn er hätte uns damit die Freiheit genommen, uns in Freiheit dafür zu entscheiden, das Wohl der anderen und der Allgemeinheit als mindestens ebenbürtig zu betrachten.

Über den einzelnen hinaus: Universalethik

Das ist auch der Sinn des Kreuzes: In Jesus begegnet Gott den Menschen auf Augenhöhe. Keine Engelarmee kommt, um Jesus vor der Kreuzigung zu schützen. Der Plan Gottes ist kein sinnloser Opfertod, sondern dass sich die Menschen zu Gott bekehren (was die an weltlicher Macht Hängenden nicht tun). Der Mensch bekommt die Freiheit, ihn ans Kreuz zu nageln – Jesus wehrt sich nicht, spielt keine Macht aus, um eben diese Freiheit des Menschen nicht einzuschränken. Doch nicht Freiheit an sich ist das Ziel, sondern die Gemeinschaft mit Gott für jene, die über ihre Gruppe und sich selbst hinaus das Wohl aller suchen – das ist die Definition von Universalethik. Auch Agnostiker, Atheisten oder Andersgläubige können sich für Universalethik entscheiden, ausgelöst durch die praktische Herausforderung des Alltags, aus eigener Einsicht – das entspricht einem anonymen Christentum. Denn nicht der, der "Herr, Herr" sagt, kommt in das Himmelreich, sondern "wer den Willen des Vaters" tut. Scheint doch auch das Gericht, von dem Jesus immer wieder spricht, eher ein Richten des Tuns zu sein, das den inneren Bezugsrahmen offenlegt, als der Gruppenzugehörigkeit.

Vor Gott ist wichtig: Wofür hast Du Deine Freiheit genutzt? Erst jetzt im Berufsalltag der Wissensgesellschaft hat der Mensch die Möglichkeit, jeden Tag sein Gewissen zu prüfen, ob er sich egoistisch verhält oder auch das Allgemeinwohl verfolgt. Individualismus reicht in der digitalen Wissensgesellschaft nicht mehr aus für wirtschaftlichen Wohlstand. Zur produktiven Zusammenarbeit gehört Respekt vor den berechtigten Interessen der anderen. Jetzt kann sich keiner mehr in sein eigenes Büro zurückziehen, weil sich alle der Frage stellen müssen: Bauen wir die Maschine – ja oder nein? Und wenn ja, mit welchem Argument? Schon das Entwickeln gemeinsamer Regeln birgt jede Menge Konfliktstoff, noch bevor überhaupt geschäftliche Entscheidungen getroffen wurden. Die Menschen bringen ihre Wertvorstellungen mit in die Firma; nach ihren Maßstäbe gehen sie ihre Konflikte an – aus wirtschaftlichen Gründen kommen religiösen oder weltanschaulichen Reibungen in die Mitte der Gesellschaft. Menschen können stinkfreundlich sein – aber erst, wenn man mit ihnen streitet, offenbart sich ihr wahrer Charakter. Der nächste Entwicklungsschritt ist ein kooperativer Individualismus, wo der einzelne sich nach seinen Gaben entfaltet, sie aber zum Wohl aller einbringt. Die Herausforderung im Berufsalltag heißt "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst". Ist das nicht das, wo Gott uns haben wollte? Kaum sind gerade mal 2.000 Jahre Kirchengeschichte vorbei, gerät das, was das Evangelium ausmacht, in das Zentrum der sozioökonomischen Entwicklung.

Jugendliche diskutieren in einer WG-Küche (Symbolbild).
Bild: ©picture-alliance

Eine neue innerkirchliche Streitkultur wird zum entscheidenden Prüfstein für die christliche Botschaft, schreibt Erik Händeler (Symbolbild).

Das gilt auch für die Institution: Eine neue innerkirchliche Streitkultur wird zum entscheidenden Prüfstein für die christliche Botschaft. Sie kann ausstrahlen in den Alltag der Firmen und danach in die Konfliktkultur von Familien (was den Anteil an Scheidungen wieder senken, die Familienqualität steigern und die Geburtenrate auf ein ausgeglichenes Niveau erhöhen könnte). Und genau das scheint das Ziel Gottes zu sein: Jesus kam nicht, um "den Frieden zu bringen", sondern das "Schwert" (Mt 10,34). Auf jeder Seite des Evangeliums knallt und knistert es. Ob in Kirchengemeinde, Beruf oder als ganze Gesellschaft: Wir müssen lernen, uns mit offenem Visier auseinanderzusetzen, und zwar nach redlichen Methoden und dabei über die eigenen, berechtigten Interessen hinaus das Allgemeinwohl verfolgen.

Die Streitkultur ist der Schlüssel für die meisten innerkirchlichen Probleme: Keiner theologischen oder spirituellen Richtung ist es gelungen, mit ihrer Vision für die ganze Kirche zu stehen. Die individuelle Ausdifferenzierung in der Gesellschaft ist an einem maximalen Punkt angekommen, so dass längst wieder überindividuelle Ziele und kooperative Verhaltensweisen zunehmen werden, um den Alltag besser bewältigen zu können. Die nächste Generation ist unideologisch und pragmatisch. Eine Vision von Kirche über alle Richtungen hinweg zu schaffen, das bekommt durch die wirtschaftlichen Verluste schlechter Zusammenarbeit im digitalen Zeitalter eine neue Chance – wenn die Streitkultur auf dem Weg dorthin stimmt. In den künftigen Gemeinden werden Laien ihre unterschiedlichen Begabungen einbringen, bekommt das Zusammenwirken in den größeren Pastoralteams und mit den vielen Ehrenamtlichen eine neue Qualität. Jede Diskussion verändert, lässt uns gegenseitig besser kennenlernen und zusammenwachsen. Wir brauchen eine Theologie des Streitens als Weg zu Gott: Nicht Nicht-Streiten ist Frieden, sondern Spannungen offenzulegen und sie einvernehmlich auszutragen: Sich auseinanderzusetzen ist der Weg zum Frieden. Streiten ist besser, als gar nicht miteinander zu reden – wenn der Streit die Gemeinschaft festigt. Mit einer innerkirchlichen Streitkultur, die das gegenseitige Absprechen konstruktiv angeht, gelingt ein neuer Aufbruch für das Evangelium in die Gesellschaft hinein.

Von Erik Händeler

Buchtipp

Erik Händeler: Himmel 4.0. Wie die digitale Revolution zur Chance für das Evangelium wird, Verlag Brendow 2018 (2. Auflage), 112 Seiten, ISBN: 978-3-96140-022-5, 10 Euro.