Auf dem Markt oder in der Dönerbude: Neue Ideen für Gottesdienstformen
Was ein Gottesdienst ist, davon haben viele Menschen in Europa ein mehr oder weniger gefestigtes Bild im Kopf. In einer Kirche werden alte Lieder gesungen und ein Einzelner leitet die Feier in einer bekannten Reihenfolge. Doch dieser Gottesdienst ist anders: Er findet in einem Café statt und viele Leute bringen sich ein. Nach einer Begrüßung singen die Besucher Lieder von Pop bis zu neuem geistlichem Liedgut, dann richtet sich jemand mit Worten irgendwo zwischen Predigt und Vortrag an die anderen. In kleinen Gruppen können alle anschließend Zitate lesen, etwas malen, sich unterhalten oder beten. Mit einem gemeinsamen Gebet und weiteren Liedern endet die Feier. Das wöchentliche Treffen im Café "Kahaila" in der Londoner Brick Lane ist eine Frucht der Initiative Fresh Expressions of Church – kurz Fresh X – die seit den frühen 1990er Jahren frischen Wind in die anglikanische Kirche von England bringen will. Eine Gruppe aus dem Bistum Limburg war im Oktober in London, um sich dort von diesen "neuen Ausdrucksformen" inspirieren zu lassen.
Warum gerade London? "Das ist eine fragmentierte, segmentierte, säkulare Stadt", sagt Christopher Campbell, Referent für Erwachsenenbildung im Bistum Limburg. "Wir treffen dort auf eine postsäkulare Welt: Die Säkularisierung des Lebens hat stattgefunden, aber die Religion kehrt an vielen Stellen ganz außerhalb von Institutionen, zum Teil auch diffus in die Gesellschaft zurück." Er denkt da etwa an Sinnsprüche auf T-Shirts oder Tattoos mit religiösen Symbolen. London ist für die etablierten Kirchen ein ganz besonders schweres Pflaster: Nach Jahrhunderten des Staatskirchentums ist die englische Gesellschaft deutlich säkularer als etwa die deutsche. So halbierte sich die Konfessionszugehörigkeit zwischen 1981 und 2008. Die multikulturelle Metropole sticht durch eine nochmal besonders niedrige Kirchenbindung heraus, trotz langer und reicher Kirchentradition mit weltberühmten Gotteshäusern, Gewölben und Chören.
Vor diesem Hintergrund entstanden seit 1990 zahlreiche Gruppen und Einzelinitiativen, die der angestammten Struktur von Kirche ein radikal neues Modell entgegensetzen wollten. Kirche sein sollte nicht mehr heißen, nur sonntags zum Gottesdienst zu kommen. Fresh X will abseits der Territorialpfarrei Gemeinschaftsformen etablieren, in denen Christsein neu und anders, nach den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen des 21. Jahrhunderts gelebt werden kann.
Die Theologin Maria Herrmann befasst sich schon seit Jahren mit dem Phänomen Fresh X. "Die anglikanische Kirche ist uns 15 bis 20 Jahre voraus – in ihren Umbrüchen wie Aufbrüchen", sagt sie. Die Grundvoraussetzungen dort seien deshalb andere als in Deutschland. "Hierzulande denkt man bei einem solchen Gottesdienst vielleicht: Es ist nur eine Andacht in einem Café. Doch in einer so säkularen Gesellschaft heißt das viel mehr als bei uns." Die anglikanische Kirche sei ihrer Natur nach sehr ökumenisch angelegt und vereine katholische mit nahezu freikirchlichen Aspekten. Fresh X könne so auf eine breite Tradition zurückgreifen und Neues wagen.
Von ganz intim bis zur Massenveranstaltung
Das Wort Gottesdienst heißt da mehr als nur bekannte Liturgie: Neben der kosmopolitischen Version im trendigen "Kahaila" kann das ganz unterschiedliche Formen annehmen. Andernorts meditieren die Besucher zunächst zu gregorianischer Musik, bevor dann zwischen kurzen Psalmen oder zum Teil nur aus wenigen Sätzen bestehenden Lesungen Menschen recht spontan von ihrem Glauben sprechen. "Zum Teil haben die ihren Kaffee noch in der Hand", berichtet Campbell.
Wieder anders ist die Gruppe, die sich in einem Dönerladen trifft, um über die Bibel zu sprechen. Die zu Grunde liegenden Texte sind ganz kurz und in leichter Sprache gehalten – damit auch die mitmachen können, die sich sonst nicht mit Texten auseinandersetzen. Es soll nicht vom Bildungsgrad abhängen, wer mitreden kann.
Am anderen Ende der Spanne zeitgenössischer Glaubensformen stehen neue kirchliche Bewegungen wie etwa die Megakirche Hillsong. Gegründet 1983 im ebenfalls sehr säkularen Australien, setzt sie auf Massenveranstaltungen etwa in großen Theatern. Kennzeichen der Hillsong-Gottesdienste ist die große Bedeutung der Musik, die Band auf der Bühne ist neben der zum Teil etwa einstündigen Predigt das konstituierende Element der Kirche. Die emotionalen Pop-Melodien gibt es auch auf CD und den gängigen Streaming-Plattformen, sie transportieren die textlich oft schlicht gehaltenen Botschaften an die Gläubigen.
Ein Netzwerk entsteht
Die großformatigen Freikirchengottesdienste sind Fresh X fremd, hier geht es eher um Aktionen im kleinen Rahmen. Verglichen mit der traditionellen Seelsorge ist der Ansatz allerdings ein völlig anderer. Bei Fresh X handeln engagierte Laien und setzen Projekte um, die ihnen persönlich am Herzen liegen. Die Priester halten sich stark im Hintergrund, sie organisieren und ermöglichen die Initiativen lediglich – und geben dafür Verantwortlichkeit und Kontrolle aus der Hand. Laut Christopher Campbell bekommen die Veranstaltungen der Initiative so einen hemdsärmeligen, sehr informellen Charakter. Die Grenze zwischen Veranstaltern und Teilnehmern verwischt, es entsteht ein Netzwerk über Veranstaltungsformen hinweg.
Denn auch eine Trennung zwischen Kultur, Gottesdienst und Caritas gibt es hier nicht mehr. Vom Glauben motiviert machen die Ehrenamtlichen etwas für die Gemeinschaft, beleben etwa ein aufgegebenes Jugendhaus wieder. An diesem Ort, wo die Menschen dann sowieso schon sind, entsteht dann aus deren Bedürfnissen heraus eine Form gelebten Glaubens. So hat sich eine Inhaberin von Nagelstudios entschlossen, in einem Kleinbus ein mobiles Nagelstudio einzurichten und an Orte mit sozialen Spannungen zu fahren. Den jungen Frauen macht sie kostenlos die Nägel und spricht dabei sowohl über deren Probleme als auch über Spirituelles. Es soll eine Offenheit entstehen: Wer über eine soziale Initiative in das Netzwerk kommt, hat auch die Möglichkeit, an anderer Stelle aktiv zu werden oder selbst etwas auf die Beine zu stellen. Erst kommen also soziale Kontakte, bevor es um Glauben geht.
Campbell hat die persönliche Involviertheit der Menschen in den Projekten beeindruckt. Sie hätten einen guten Sinn dafür, was die Menschen brauchen. Der kommt nicht von ungefähr: Die Ausbildung der "Pioniere" genannten Ehrenamtlichen und Priester haben die Anglikaner neu ausgerichtet. Sie lernen jetzt nicht nur, wie man einen Gottesdienst feiert – der missionarische Auftrag steht von Anfang an im Zentrum. Ziel soll sein, die christliche Botschaft in neuen sozialen Kontexten zu vermitteln.
Reibung zwischen Tradition und Progression
Allerdings ist auch Fresh X kein blauer Himmel ohne Wolken: So manche aktive Gemeinde feiert heute auch im Café Gottesdienst, weil die eigene Kirche eben aus finanziellen Gründen schließen musste. Zudem gibt es zwischen den neuen Aktionen und den klassischen Kirchengemeinden Reibungen: Mitglieder von Fresh X sehen sich manchmal als Anglikaner zweiter Klasse und klagen, die traditionellen Kirchgänger schauten auf sie herab. Andererseits sichert etwa der Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, Fresh X seine Unterstützung zu und zeigt sie deutlicher als gegenüber den Sonntagskirchgängern. Die Segmentierung der Gesellschaft wird hier spürbar, wenn auch im Großen und Ganzen Toleranz herrschen mag.
Zudem darf durchaus hinterfragt werden, ob die niederschwellige Offenheit nicht die Grenze zur Beliebigkeit überschreitet. Ist es noch im Geiste des Christentums, wenn vornehmlich allgemein spirituelle Gedanken im Mittelpunkt stehen? Das hat auch die Limburger Gruppe diskutiert: So haben manche Besucher Projekte zum Teil mit dem Prädikat "Das ist der letzte Grad der Verzweiflung, bevor gar kein Gemeindeleben mehr stattfindet" versehen. Fresh X bleibt Geschmackssache.
Neue, "freshe" Impulse für die Kirche wünscht man sich aber natürlich auch im deutschen Katholizismus. Doch die Methoden von der Insel einfach zu importieren, ist wenig hoffnungsvoll, findet Campbell. "Konzepte gibt es auch in der anglikanischen Kirche genug, darum geht es nicht. Es geht darum, dass die Engagierten authentisch sind und aus ihrem Glauben heraus handeln." Diese anpackende, informelle Haltung müsse man übernehmen, sagt er. Die Kirche müsse die Anliegen der Menschen ernster nehmen und diejenigen, die neue Brücken in die Gesellschaft bauen wollen, unterstützen. Das heißt aber wie in England auch: Der Pfarrer muss einen Teil seiner Autorität abgeben und darf das letzte Wort nicht immer nur für sich beanspruchen. Autorität und Kapital müssen diejenigen in die Hände bekommen, die ihre Berufung ernst nehmen.
Erstmal eine spirituelle Vertiefung
Diese zu entdecken, muss laut Campbell ein weiterer Baustein sein. So habe eine Gemeinde in England bei der Suche nach Konzepten für die Zukunft erst einmal bei sich selbst angefangen. Es wurden nicht zuerst Konzepte entwickelt, sondern der eigene Glaube vertieft. Danach hörten die Gemeindemitglieder den Menschen ihres Viertels zu, bevor sie über Aktionen nachdachten. Arbeit an der Kirche der Zukunft heißt also auch Arbeit am eigenen Glauben. "Manche Aktiven hierzulande sind weniger vom Glauben getragen, als sie von sich selbst denken", glaubt Campbell. Da müsse eine Vertiefung her. Gleichzeitig könne es nicht darum gehen, einfach nur neue Gottesdienstbesucher zu akquirieren. "Wer das will, ist in einer Sackgasse."
Dass sich Formen der anglikanischen Bewegung aus England nicht einfach auf die Katholiken in Deutschland übertragen lassen, beobachtet auch Herrmann. "Den Blick in erster Linie auf den Gottesdienst zu lenken, ist eine sehr katholische Herangehensweise." Fresh X orientiere sich eher an Missionsbewegungen vergangener Jahrhunderte. So hätten auch die Jesuiten in der Mission sich stets erst um eine Gemeinschaft und soziales Miteinander gekümmert, bevor Fragen nach Religion und Gottesdienstfeier auf den Tisch kamen. Die heutige Mission in westlichen Gesellschaften finde etwa in Familienbildungsstätten, Schulen oder karitativen Einrichtungen statt – und sie brauche Zeit. Sieben Jahre brauche eine Gemeinschaft etwa, um vom ersten Schritt der Gemeinschaftsbildung in das Stadium zu kommen, sich auch über die Religionsausübung Gedanken zu machen.
Das Problem in Deutschland: "Diese Zeit fehlt." Die Kirche stehe gerade unter großem Handlungsdruck. Deshalb würden weiter schlicht neue Angebote produziert, ohne auf die Komplexität einer Gemeinschaft einzugehen. Gerade Fresh X sei aber als Diskussionsfeld gedacht, das abseits fertiger Angebote Impulse entwickle. Doch dieses Aktivierungspotential der Gläubigen werde hierzulande noch zu wenig unterstützt. "Wir bräuchten da auch kirchenrechtlich einen Schutzraum, damit neue Initiativen ein paar Jahre lang auch einfach mal machen können", so Herrmann.
Die Fresh X-Bewegung ist also keine pauschale Blaupause für eine Kirche der Zukunft überall. Ein bisschen Inspiration ist aber auch bei Christopher Campbell hängengeblieben. Er will jetzt regelmäßig Fresh X-Konzepte im Bistum Limburg streuen, die ohne Probleme schon jetzt umgesetzt werden könnten. Erste Funken für neues Feuer und eine andere Art, Kirche zu sein und Gottesdienst zu feiern? Vielleicht.