Pastor: Warum ich Erich Honecker im Pfarrhaus Asyl gewährte
Der Brandenburger Pastor Uwe Holmer wurde über Nacht international bekannt, als er Anfang 1990 dem gestürzten DDR-Staatsratschef Erich Honecker und dessen Ehefrau Margot "Asyl" in seinem Pfarrhaus in Lobetal gewährte. Nach der Auflösung der Wohnsiedlung für SED-Funktionäre im nahen Wandlitz fand sich für Honecker damals sonst keine sichere Wohnung. Holmer, der seinerzeit die diakonische Einrichtung Hoffnungsthaler Anstalten leitete, beherbergte auf Bitten der Kirchenleitung mit seiner Frau das Ehepaar Honecker für zweieinhalb Monate. 30 Jahre nach dem Mauerfall spricht der 90-jährige Holmer über seine Zeit mit Honecker, Anfeindungen und das Zugehen auf Andersdenkende.
Frage: Pastor Holmer, welcher menschliche Zug von Erich Honecker ist Ihnen in Erinnerung geblieben?
Holmer: Auf der menschlichen Ebene haben wir uns gut unterhalten. Unsere Gespräche waren durchaus freundlich, er war sehr diszipliniert, hatte sich gut im Griff, was den verlorenen Sozialismus und seine Absetzung anging, obgleich er innerlich sicher wütend war. Herr Honecker merkte bald, und ich auch, dass wir politisch auf verschiedener Basis standen. Auch geistlich hatten wir keine wirkliche Brücke. So wichen wir beide harmlos aus auf persönliches Gespräch, was durchaus auch interessant war.
Frage: Ihre Entscheidung, dem Ehepaar Honecker Asyl im Pfarrhaus zu gewähren, wurde damals von vielen kritisiert. Was waren die Argumente, es dennoch zu tun?
Holmer: Gerade unsere Kirchgemeinde und Anstaltsgemeinde standen fast vollständig hinter mir. Kritiker und Demonstranten hatten natürlich die unterschiedlichsten Argumente. Meist waren sie ärgerlich-verwundert oder wütend, dass wir Honeckers Asyl gewährten. Um das Asyl hatte uns die Kirchenleitung gebeten. Abends rief ein Gemeinderat aus Thüringen an: "Wir sind empört, dass sie den Mann, der uns die Karriere verdorben hat, im Pfarrhaus aufnehmen." Als ich erklärte, dass wir es uns lange überlegt hatten, aber meinten, wir sollten die neue Zeit nicht mit Hass und Verachtung beginnen, sondern mit Versöhnung, sagte mein Gegenüber: "Wenn Sie sich das richtig überlegt haben, dann soll es so sein." Dieses Argument, dass wir die neue Epoche in unserem Land nicht mit Hass und Streit beginnen sollten, weil das das Miteinander noch schwerer machen würde und weil die zentrale christliche Botschaft die Vergebung und Versöhnung ist, hat vielen geholfen, uns besser zu verstehen.
Frage: Gab es Kritiker, die später - mit Abstand - Ihre Entscheidung doch noch nachvollziehen konnten?
Holmer: Der eindrücklichste Brief in dieser Richtung kam nach zehn Jahren etwa. In ihm hieß es: "Ich habe Ihnen damals meine Freundschaft gekündigt. Heute bitte ich Sie unter Tränen um Vergebung. Es war richtig, was Sie taten." Es kamen mit der Zeit etliche Reaktionen in dieser Richtung.
Frage: Ihr Pfarrhaus war seinerzeit belagert. Dennoch konnten Sie abends im Schutz der Dunkelheit mit Honecker Spaziergänge machen. Was waren Ihre Themen?
Holmer: Wie gesagt, in politischen und geistigen Fragen hatten wir keine Brücke. Als ich meinte, Gorbatschow sei ein prächtiger Mann, erntete ich Empörung. Für ihn war Gorbatschow der Verräter des Sozialismus. Doch habe ich Herrn Honecker auch herausgefordert. Ich sagte ihm: Die Wiedervereinigung Deutschlands ist kein Zufall. Deutschland wurde 1949 in zwei Staaten geteilt. Genau 40 Jahre später - 1989 - werden wir wiedervereinigt. 40 Jahre sind in Gottes Heilsgeschichte eine feste Zeit der Demütigung, der Läuterung und der Besinnung.
Frage: Was sagte Honecker darauf?
Holmer: Herr Honecker sagte etwas verlegen: "Wenn Sie das so sehen?!" Ich bin dennoch gewiss, dass er im Laufe seiner langen Krankheit über diese Fragen nachgedacht hat. Als er aus Moskau ausgewiesen war und in Deutschland im Gefängnis saß, haben meine Frau und ich ihn besucht. Ich sagte ihm: "Herr Honecker, der Sozialismus hat einen Fehler gemacht." Er fragte: "Wieso?" Ich: "Der Sozialismus hat gemeint, der Mensch sei gut, ist er aber nicht. Jeder Mensch ist ein Egoist. Jesus sagt: Wir sind Sünder. Deshalb hat Jesus die Herzen verändern wollen. Und wo Herzen verändert werden zum Guten, zu Glauben, Liebe und Hoffnung, auch zu Ehrlichkeit und Verantwortung, da werden auch die Verhältnisse gut."
Frage: Und Honecker?
Holmer: Auch da wich er einer Antwort aus. Ich aber war überzeugt, dass das nicht nur für den Sozialismus gilt, sondern für jede Gesellschaftsordnung: Die Herzen müssen zum Guten verändert werden. In diesem Gespräch wurde ich wieder neu froh über meinen geistlichen Auftrag.
Frage: Wuchs zwischen Ihnen und Honecker so etwas wie eine Freundschaft?
Holmer: Freundschaft ist zu hoch gegriffen. Wenn aber jemand zehn Wochen in unserem Hause wohnt und durch schwere Zeiten geht, wacht einfach Mitempfinden in einem auf. Wir wussten ja: Wir haben da kein Urteil zu fällen, sollen einfach nur Asyl geben und dürfen auf das Urteil der Gerichte warten. Zwar mussten auch wir uns erst mal überwinden. Aber weil wir der Anweisung Jesu folgten und das persönlich erlebte Unrecht vergeben hatten, waren wir frei zur menschlichen Begegnung. So haben wir mit Honeckers gefühlt, als der irre Vorwurf des Hochverrats fallen gelassen wurde. Auch waren wir mit ihnen erleichtert, dass er schließlich später als wirklich kranker Mann im sowjetischen Lazarett in Beelitz Schutz und gesundheitliche Versorgung fand.
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Frage: In Ihrer Autobiografie "Der Mann, bei dem Honecker wohnte" schreiben Sie, dass es bei der DDR-Führung deutlich schlimmer hätte kommen können.
Holmer: Ja, wir waren froh, dass wir in der DDR keinen Ceausescu hatten oder Breschnew, sondern einen zwar überzeugten Kommunisten, aber doch einen friedlicheren Menschentyp. Wenn ich an die Schüsse an der Mauer denke, komme ich dabei auch ins Stottern. Doch ich bin überzeugt, das ist eine Schuld, die von Moskau bis Berlin reicht und nicht Honecker allein anzulasten ist. Er war ein bis zum Fanatismus überzeugter Kommunist.
Frage: Haben Sie und Ihre Frau das Ehepaar Honecker so wahrgenommen, als sie bei Ihnen wohnten?
Holmer: Für uns waren die beiden ein hilfloses, ziemlich verzweifeltes Ehepaar, das keine andere Hilfe fand als in einem Pfarrhaus. Zugleich waren wir als Familie tief dankbar und froh über den Fall der Mauer und die anstehende Wiedervereinigung. Das wussten auch Honeckers. Vielleicht war auch das eine Hinderung zu allzu großer Freundschaft. Aber auch diese Freude war eine Kraft zum Helfen. Ja, ich will sogar den Sicherheitsbehörden und Genossen ein freundliches Wort geben: 40 Jahre lang hatten sie einen Sicherheitsapparat aufgebaut und ihn im entscheidenden Augenblick nicht gegen ihr Volk angewendet. Das alles gab uns eine große Dankbarkeit und den Willen, nun auch den überwundenen Gegnern Großmut zu zeigen.
Frage: Sie konnten sich auf Honecker einlassen. Was braucht es, um sich auf einen Menschen einzulassen, der eigentlich im ersten Reflex eine Abwehrreaktion in uns auslöst?
Holmer: Dem strikten Befehl Jesu zu gehorchen: "Ihr sollt dem Nächsten seine Verfehlungen vergeben. Wenn ihr nicht vergebt, so wird euch euer (himmlischer) Vater auch nicht vergeben" (Matthäus 6,14f). Selten ist unser Herr so eindeutig und unbedingt gewesen wie hier. Und: Vergeben heißt abgeben, wegtun, in die Tiefe des Meeres werfen, von wo man es nicht mehr hochholen kann und will. Hier gilt auch nicht: Ich will vergeben, aber nicht vergessen.