Betlehem – Ein biblischer Blick von David bis Jesus
"Du, Betlehem-Efrata, bist zwar klein", so heißt es im Buch des Propheten Micha – aber nicht nur zu Weihnachten ist für Christinnen und Christen dieser reale Ort in der Welt Zentrum und Ausgangspunkt ihres Glaubens. Dort sei Gott Mensch geworden – und die in der Advents- und Weihnachtszeit aufgestellte Krippe vergegenwärtigt diesen Ort weltweit im Alltag der an Jesus Christus glaubenden Menschen. Doch weder im Alten Testament noch im Neuen Testament ist Betlehem ein wichtiger Ort, sondern entscheidend ist, wer von dort stammt.
Auf einem Höhenrücken gelegen, der nur 1.000 Meter lang und an der breitesten Stelle 300 Meter breit ist, war Betlehem zur Zeit der Geburt Jesu ein unbedeutendes Dorf, das neun Kilometer südlich von Jerusalem liegt – fernab des politischen und wirtschaftlichen Geschehens. Dort wurde die Erzmutter Rahel begraben (Gen 35,19), von dort stammte einer der Richter Israels, der 60 Kinder hatte (Ri 12,8–10), und es gab dort ein Privatheiligtum (Ri 17,7–13). Doch mit keiner biblischen Erzählung oder Gestalt ist Betlehem enger verbunden als mit König David. Wie unbedeutend sein Herkunftsort war, zeigt sich daran, dass er nicht dort, sondern im nah gelegenen Hebron zum König ausgerufen wurde und Jerusalem zu seiner Hauptstadt, der sogenannten "Davidsstadt", machte. Aber Betlehem wird als "seine Stadt" bezeichnet, weil er aus ihr stammte: "David war der Sohn eines Efratiters namens Isai aus Betlehem in Juda, der acht Söhne hatt" (1 Sam 17,12).
Seine Vorfahren – so erzählt es das Buch Rut – waren aufgrund einer Hungersnot aus Betlehem geflohen. Eigentlich gilt die Gegend um Betlehem, als fruchtbarer Boden, wie man es auch heute noch an den Olivenhainen, Feigenbäumen und Weinreben erkennen kann. So wurde zu biblischer Zeit Betlehem auch Efrata oder Efrat genannt und damit als "fruchtbar" bezeichnet. Allerdings gibt es vor Ort keine Wasserquelle und damit die Stadt ihrem Namen gerecht werden konnte, der übersetzt "Haus des Brotes" bedeutet, bedurfte es viel Regen, ansonsten drohten Dürren – so wie es am Anfang des Buches Rut erzählt wird. Rut, die Hauptfigur dieses Buches, ist keine Israelitin, sondern stammt aus dem Nachbarvolk Moab, zu dem Davids Urgroßeltern flohen. Rut wird jedoch für die Israeliten zu einem Vorbild für die menschlichen Grenzen überschreitende Solidarität und am Ende des nach ihr benannten Buches wird sie zur Urgroßmutter des bedeutendsten israelischen Königs, David.
Nachdem Israel durch das babylonische Exil (597–539 v. Chr.) die Eigenstaatlichkeit verloren hatte und das davidische Königtum untergegangen waren, entstand die Hoffnung auf einen neuen Herrscher, der das Volk retten werde. In den Büchern der Propheten finden sich verschiedene Herrscherverheißungen, die Hoffnungen auf einen neuen David machten oder sogar noch einen Schritt weitergehen. So wird im Buch Jesaja die Hoffnung geschürt, dass aus dem untergegangenen davidischen Königshaus, das im Bild eines abgehackten Baumstumpfs dargestellt wird, ein neuer Herrscher erstehen werde. Der Anknüpfungspunkt hierfür ist nicht der Dynastiegründer, sondern dessen Vater: "Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht" (Jes 11,1). Ein völlig neuer Anfang wird herbeigesehnt – im Kontrast zu den häufig in den Büchern der Könige negativ dargestellten Nachfolgern Davids. Im Buch des Propheten Micha ist der Ort Betlehem eben ein solcher Anknüpfungspunkt der Hoffnung.
Startpunkt der Erfolgsgesichte Davids
"Aber du, Betlehem-Efrata, bist zwar klein unter den Sippen Judas, aus dir wird mir einer hervorgehen, der über Israel herrschen soll. Seine Ursprünge liegen in ferner Vorzeit, in längst vergangenen Tagen." So wird es in Micha 5,1 verkündet, und deswegen verkünden die Evangelisten Matthäus und Lukas die Geburt Jesu in Betlehem. An diesem Ort wuchs David nicht nur auf, sondern wurde auch durch den Propheten Samuel zum König gesalbt (1 Sam 16,1–13). Von dort nahm die Erfolgsgeschichte Davids, der gemäß den Samuelbüchern die zwölf Stämme Israel vereinte und ein großes Reich schuf, seinen Anfang. Und diese Hoffnung blühte gerade im Angesicht der tiefsten Krise des davidischen Königtums auf. Kurz zuvor wird in Micha 4,9–10 das traurige Schicksal Jerusalems verkündet: Die Stadt steht ohne König dar, sie soll sich winden und schreien "wie eine Gebärende", denn ihre Bewohner werden "nach Babel" ins Exil geführt werden.
Dem Untergang der Hauptstadt wird nun die von Betlehem ausgehende Hoffnung entgegengesetzt. Aus der als "klein" bezeichneten, unbedeutenden Stadt, wird ein Herrscher hervorgehen, der "groß sein wird bis an die Grenzen der Erde" (Mi 5,3). Für das Auftreten dieses mächtigen Herrschers wird weder ein Termin angegeben noch wird er konkret benannt. Doch der vorherige Vers verdeutlicht entgegen der üblichen christlichen Leseweise, dass sein Amtsantritt erst geschehen wird, wenn die Not des Volkes gewendet, das heißt das babylonische Exil beendet ist. "Darum gibt er sie preis, bis zu der Zeit, da die Gebärende geboren hat. Dann wird der Rest seiner Brüder zurückkehren zu den Söhnen Israels" (Mi 4,2). Die Gebärende ist, wie das vorherige Kapitel verdeutlicht, die Stadt Jerusalem und ihre Not ist die Führung ins Exil. Liest man die Verheißung in Micha 5,1–3 im Kontext, ergibt sich ein Geschehenszusammenhang: Vers 1 kündigt allgemein das Kommen des neuen Herrschers aus Betlehem an, Vers 2 verdeutlicht das die Wende der Not, also das Ende des Exils die Voraussetzung für sein Kommen ist, und gemäß Vers 3 bedeutet sein Herrschaftsantritt, dass das Volk nun wieder in Frieden "wohnen" kann (wie es dem Volk schon gemäß 2 Samuel 7,10–11 zur Zeit Davids versprochen wurde). Dies ist die Hoffnung auf politische Selbstständigkeit und Sicherheit für das Volk Israel.
Weder das eine noch das andere erlangte Israel durch Jesus Christus – und das weiß auch der Evangelist Matthäus, wenn er eben diese Verheißung zum Anfang seines Evangeliums zitiert. Nirgends im Neuen Testament wird erwähnt, dass sich diese Verheißung durch die Geburt Jesu Christi erfüllt habe. Der Apostel Paulus berichtet sogar nichts von einer Geburt Jesu in Betlehem. Und im Evangelium nach Johannes wird die Vorstellung, Jesu sei der Messias, von einem Teil des Volkes abgelehnt, weil er eben nicht aus Betlehem stamme: "Andere sagten: Dieser ist der Christus. Wieder andere sagten: Kommt denn der Christus aus Galiläa? Sagt nicht die Schrift: Der Christus kommt aus dem Geschlecht Davids und aus dem Dorf Betlehem, wo David lebte?" (Joh 7,41–42). Nur die Evangelisten Matthäus und Lukas berichten von einer Geburt Jesu in Betlehem – und sie tun es auf sehr unterschiedliche Art. Nach Matthäus ist Betlehem der Wohnort von Josef und Maria und Jesus wird in ihrem Haus dort geboren (vgl. Mt 2,9–11). Gemäß Lukas wohnen Maria und Josef in Nazaret, als sie durch den Befehl des Kaisers zur Steuerschätzung gezwungen sind, nach Betlehem zu gehen, wo Jesus geboren wird. Doch kurz darauf kehr dier Familie nach Nazaret zurück ( vgl. Lk 1,26 und 2,4–5.39). Beiden Evangelisten ist es wichtig zu betonen, dass Jesus als Nachfahre Davids in Betlehem geboren wurde – und nur Matthäus verweist in diesem Zusammenhang auf die Verheißung in Micha 5,1-3.
Als die Sterndeuter nach Jerusalem zu König Herodes kommen und den "König der Juden" suchen, befragt er die Hohepriester und Schriftgelehrten, wo der "Christus" gemäß der Heiligen Schrift geboren werde. "Sie antworteten ihm: in Betlehem in Judäa; denn so steht es geschrieben bei dem Propheten: Du, Betlehem im Gebiet von Juda, bist keineswegs die unbedeutendste unter den führenden Städten von Juda; denn aus dir wird ein Fürst hervorgehen, der Hirt meines Volkes Israel" (Mt 5,6). Ihre Antwort ist kein Zitat, sondern eine Auslegung. Gegenüber der Stelle im Buch Micha wird die Benennung des Ortes vereindeutigt, denn es gibt noch ein zweites Betlehem zehn Kilometer westlich von Nazaret. Nein, es ist das Betlehem Davids gemeint im Stammesgebiet Judas. Diese Stadt ist nicht "klein", sondern sie ist "keineswegs die unbedeutendste". Und um den Bezug zu David zu verdeutlichen, wird Micha 5,1 mit einem Gotteswort an David aus den Samuelbüchern kombiniert: "Du sollst der Hirt meines Volkes Israel sein, du sollst Israels Fürst werden" (2 Sam 5,2). Doch Jesus ist auch im Evangelium nach Matthäus zwar ein Sohn Davids, aber kein neuer, weltlicher König Israels. Er stirbt, wie es an seinem Kreuz angeschlagen steht, als "König der Juden" (Mt 27,37). Doch aus seiner Auferstehung folgt weder Israels politische Selbstständigkeit noch ein Wohnen in Sicherheit. Sie ist kein Neuanfang im erwarteten Sinne, sondern ein radikaler Anfang, aus dessen Perspektive in den Evangelien nach Matthäus und Lukas auf das Alte Testament geschaut wird, um die Diskontinuität in der Kontinuität zu erkennen. So ist es ihnen wichtig – ohne, dass wir heute wissen können, ob Jesus wirklich in Betlehem geboren wurde oder nicht –, dass der im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi grundgelegte Anfang in der Stadt Isais und Davids liegt – auch wenn der Sohn Davids kein neuer David, sondern der Sohn Gottes ist.