Reinelt: Die Bedrohung durch die Stasi war eine enorme Belastung
Am 15. Januar 1990 stürmten tausende Demonstranten die Zentrale der DDR-Staatssicherheit in der Berliner Normannenstraße, um die massenhafte Vernichtung von Stasi-Akten zu verhindern. Mit der Erstürmung des Geländes endete faktisch die jahrzehntelange Schreckensherrschaft der Stasi. Im Interview mit katholisch.de blickt Dresdens langjähriger Bischof Joachim Reinelt auf die damaligen Ereignisse zurück. Außerdem spricht er über seine persönlichen Erfahrungen mit der Staatssicherheit, einen Spitzel im Dresdner Ordinariat und die Frage, ob die Aufarbeitung der Stasi-Geschichte heute, 30 Jahre später, als gelungen angesehen werden kann.
Frage: Bischof Reinelt, welche Erfahrungen haben Sie persönlich mit der Stasi gemacht?
Reinelt: Persönliche Erfahrungen habe ich zum Glück fast gar nicht machen müssen. Allerdings hat es mich sehr erschüttert, als ich nach der Wende erfahren habe, dass eine Sekretärin unseres Ordinariats in Dresden hauptamtliche Mitarbeiterin der Stasi war. Irgendwie hatte die Stasi es geschafft, die Frau unter meinem Vorgänger Gerhard Schaffran in das Ordinariat einzuschleusen – und niemand hat etwas gemerkt. Wahrscheinlich auch, weil die Frau sich immer sehr fromm gab. Erst beim Blick in die Stasi-Akten wurde uns der Fall schließlich bekannt.
Frage: Wie sind Sie damit umgegangen?
Reinelt: Ich habe die Frau damals sofort zur Rede gestellt, aber sie hat alles geleugnet. Und am nächsten Tag war sie verschwunden und ich habe sie nie wiedergesehen. Was aus ihr geworden ist, weiß ich nicht.
Frage: Was war das für ein Gefühl, als Ihnen klar wurde, dass Sie und andere Mitarbeiter des Ordinariats offenbar über lange Zeit von einer Mitarbeiterin der Staatssicherheit beobachtet worden waren?
Reinelt: Das war schon ein Schock. Natürlich habe ich sofort überlegt, was die Frau über die Jahre wohl alles weitergegeben hat. Denn die Informationen, die sie über uns und das kirchliche Leben im Bistum auskundschaften konnte, hat sie sicher direkt an die Stasi gemeldet. Allerdings haben wir dazu in den entsprechenden Akten kaum etwas gefunden. Eventuell wurden diese Informationen kurz vom dem Untergang der DDR von den Verantwortlichen noch schnell vernichtet. Das weiß ich aber nicht.
„Es gab in der DDR Menschen, die die Macht hatten, anderen Menschen Angst zu machen – das ist das Wesen einer Diktatur, und das ist schrecklich.“
Frage: Haben Sie auch Ihre eigene Stasi-Akte gelesen?
Reinelt: Ja, es stand aber erstaunlich wenig drin. Das liegt vermutlich daran, dass ich erst 1988 Bischof von Dresden-Meißen geworden bin und vorher für diese Truppe nicht interessant genug war.
Frage: Können Sie trotzdem ein Beispiel für einen Eintrag in Ihrer Akte nennen?
Reinelt: Ich habe aus der Akte unter anderem erfahren, dass die Stasi vor meinem ersten Flug als Bischof von Berlin-Schönefeld nach Rom meinen Koffer aufgemacht und Dokumente aus meinem Gepäck Seite für Seite abfotografiert hat. Als ich meinen Koffer in Rom aufgemacht habe, habe ich das nicht bemerkt, sondern erst später in der Akte gelesen. Was das für Dokumente waren, weiß ich heute nicht mehr – auch nicht, ob sie für die Stasi irgendwie von Bedeutung waren.
Frage: Sie haben eben gesagt, dass Sie erst als Bischof in den Fokus der Stasi gerückt sind. Aber Sie waren als katholischer Priester ja auch schon vorher Vertreter einer Institution, die dem DDR-Regime alles andere als loyal gegenüberstand. Sie müssen also doch auch schon vor Ihrem Amtsantritt als Bischof beobachtet worden sein.
Reinelt: Sicher, aber in den Akten habe ich dazu nichts gefunden. Ich erinnere mich lediglich an einen kleineren Vorfall aus meiner Zeit als Kaplan. Damals hat mich ein Jugendlicher wegen irgendeiner Sache bei der Stasi angeschmiert, aber das war harmlos. Außerdem weiß ich, dass ich wegen meines Engagements in der von den Jesuiten gegründeten Marianischen Kongregation zumindest zeitweise im Fokus der Stasi war. Das hatte aber keine Konsequenzen.
Frage: Gerade jüngere Menschen können sich heute kaum noch vorstellen, wie es ist, in einer Diktatur zu leben und potentiell von Spitzeln umgeben zu sein. Können Sie aus Ihrer eigenen Erfahrung beschreiben, wie sich die permanente Gefahr der Überwachung auf das Leben und den Alltag der Menschen in der DDR ausgewirkt hat?
Reinelt: Es gab in der DDR Menschen, die die Macht hatten, anderen Menschen Angst zu machen – das ist das Wesen einer Diktatur, und das ist schrecklich. Die permanente Bedrohung durch die Stasi war eine enorme Belastung und hat die Menschen vorsichtig und misstrauisch werden lassen. Als Katholiken hatten wir in unseren Gemeinden noch einen gewissen Schutzraum, da konnte durchaus offen gesprochen und auch mal auf das System geschimpft werden. Wir waren immer überzeugt, dass unter uns Katholiken kein Verräter war – was sicher ziemlich naiv war. Insgesamt aber war die Bedrohung durch die Stasi immer da. Die Erstürmung der Stasi-Zentrale in Berlin und der Bezirks- und Kreisdienststellen in anderen Städten der DDR war deshalb umso befreiender. Das war ein ganz bedeutender Schritt auf dem Weg zur Freiheit, da fiel eine große Last von den Menschen ab.
Frage: Würden Sie sagen, dass die Bedeutung des 15. Januar 1990 für die Friedliche Revolution bislang unterschätzt wird?
Reinelt: Ja, das sehe ich so. Die Erstürmung der Stasi-Zentrale war vielleicht sogar wichtiger als manche der großen Demonstrationen in den Wochen und Monaten zuvor, weil man da noch nicht wusste, wie es mit der Friedlichen Revolution weitergehen würde. Der 15. Januar 1990 bedeutete dann aber die endgültige Entmachtung der Angstmacher.
Frage: Sie haben eben davon gesprochen, dass Sie die Hoffnung hatten, dass es unter den Katholiken in der DDR keine Verräter gab. Heute wissen wir aber, dass auch rund 90 Priester als Inoffizielle Mitarbeiter für die Staatssicherheit tätig waren. Wie bewerten Sie das?
Reinelt: Bei diesem Thema warne ich vor einem vorschnellen Urteil. Manche der Priester, die heute als Inoffizielle Mitarbeiter gelten, wussten gar nicht, dass sie als Zuträger der Staatssicherheit geführt wurden. Ich weiß zum Beispiel von einem Priester, der aufgrund seiner Tätigkeit als Gefängnisseelsorger in Bautzen von der Stasi als IM geführt wurde – und davon keine Kenntnis hatte. Insofern muss man hier durchaus differenzieren.
„Den Opfern der Stasi ist meiner Meinung nach aber nicht genug Gerechtigkeit widerfahren, vor allem nicht in finanziellen Dingen.“
Frage: Es gab aber auch Priester, die aufgrund irgendeines Fehlverhaltens von der Stasi unter Druck gesetzt wurden, sich als Inoffizielle Mitarbeiter zu engagieren.
Reinelt: Das stimmt, solche Fälle gab es auch. Allerdings hat zumindest Bischof Schaffran immer versucht, solche Priester möglichst schnell aus der Schusslinie zu nehmen. Oft wurden die Betroffenen ins Ausland versetzt, um sie dem Zugriff der Stasi zu entziehen.
Frage: Was empfinden Sie denn bei dem Gedanken, dass die große Mehrheit der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter, die so viele Menschen bedrängt und so viele Leben zerstört haben, heute weitgehend unbehelligt unter uns lebt?
Reinelt: Das ist ein sehr großes Problem. Wenn die Täter von damals heute sagen "Wir haben ja nur unsere Arbeit gemacht", dann ist das keine Entschuldigung für erpresserische Verhöre und grausame Bestrafungen gegen meist völlig unbescholtene Bürger. Hier ist viel Unrecht geschehen, das nach 1990 nicht oder nur unzureichend aufgearbeitet und wiedergutgemacht worden ist.
Frage: Würden Sie diese kritische Urteil auch für die Aufarbeitung der Geschichte der Staatssicherheit insgesamt fällen?
Reinelt: Ja, absolut. Zwar hat die Bundesrepublik im Vergleich mit anderen Ländern, in denen es früher Geheimpolizeien und andere staatliche Unterdrückungssysteme gab, bei der Aufarbeitung sicher viel erreicht. Den Opfern der Stasi ist meiner Meinung nach aber nicht genug Gerechtigkeit widerfahren, vor allem nicht in finanziellen Dingen. Und ich fürchte, dass das nach so langer Zeit auch nicht mehr passieren wird.