Einer Familienlegende auf der Spur

Krechting und ich – Stamme ich von einem Ketzer ab?

Veröffentlicht am 22.01.2020 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Bis zu seinem Tod war mein Opa fest davon überzeugt: Die aus dem Münsterland stammende Familie Stiegemann ist mit dem berühmten Wiedertäuferführer Bernd Krechting verwandt. Dafür habe er Beweise gefunden, sagte man mir. Doch kann das stimmen? Ich habe mich auf die Suche gemacht.

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Opa Stiegemann habe ich selbst nie kennengelernt. Alles was ich von ihm habe sind sein schwarz-weißes Gesicht auf alten Fotos und Geschichten wie diese: Opa Stiegemann war davon überzeugt, dass seine Familie von Bernd Krechting, einem der Wiedertäuferführer aus Münster, abstammte. Krechting soll den Beinamen "Stiegemann" getragen haben, weil er angeblich unter der Stiege, also der Treppe zur Stadtmauer im kleinen Ort Havixbeck bei Münster gewohnt hat. Wie es früher häufiger vorkam, hätten spätere Generationen den Beinamen irgendwann als Nachnamen übernommen – und meine Familie trägt ihn bis heute.

Opa Stiegemann beschäftigte sich intensiv mit dem berühmten Ahnen, studierte dicke Quelleneditionen aus der Zeit der Wiedertäufer und stieg eines schönen Tages ins Auto – auf den Beifahrersitz, weil er im Krieg ein Bein verloren hatte – und ließ sich aus dem Sauer- ins Münsterland bringen. Denn knapp außerhalb von Havixbeck, in der kleinen Bauernschaft Poppenbeck, sollten noch immer einige Nachfahren des Wiedertäufers leben. Dort musste auch sein Großvater (mein Ururgroßvater) geboren worden sein, der dann irgendwann im 19. Jahrhundert auf der Suche nach einer besseren Zukunft in die Stadt ging. Dem Bauern, der ihm öffnete, stellte sich Opa Stiegemann als entfernter Verwandter vor, hocherfreut an alte Familienbande anknüpfen zu können – und bekam die Tür vor der Nase zugeschlagen. Es war kurz nach Kriegsende, die Landwirte fürchteten ausgebombte Städter, die sich mit erschwindelten Verwandtschaftsverhältnissen bei ihnen einnisten wollten. Unverrichteter Dinge musste Opa Stiegemann abreisen.

Einen Ketzer zum Vorfahren – wirklich?

Diese Geschichte – von der Generation nach ihm bis zur Unendlichkeit repetiert – hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Kaum ein Ausflug meiner Familie nach Münster kam ohne den Blick zu den Käfigen am Lambertiturm aus. Und auch ich selbst verbreitete die Legende mit Begeisterung. Wer von meinen Klassenkameraden, Kommilitonen oder Arbeitskollegen konnte schon von sich sagen, er habe einen Ketzer zum Vorfahren? Doch mit der Zeit kamen mir Zweifel. Schließlich kann ich keine Belege für die Geschichte vorweisen. Das will ich ändern und mache mich auf die Suche nach Beweisen.

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Schon kurz nach Beginn meiner Recherche fallen mir erste Ungereimtheiten in der "Legende" auf. Die deutlichste: Bernd Krechting hat nie in Havixbeck gelebt. Er und sein Bruder Heinrich stammen aus Schöppingen nördlich von Coesfeld. Unter dem Einfluss der radikalen Lehren der Täuferbewegung ziehen beide nach Münster, wo sie sich Jan van Leiden anschließen. Als dieser die westfälische Stadt zum Neuen Jerusalem und sich selbst zu dessen König ausruft, wird Heinrich Kanzler und Bernd Hofrat. Nach zwei Jahren Belagerung durch die Truppen des Bischofs Franz von Waldeck fällt das Täuferreich. Heinrich gelingt die Flucht nach Norddeutschland. Jan van Leiden, Bernd Knipperdolling und – stellvertretend für seinen berühmteren Bruder – Bernd Krechting werden am 22. Januar 1536 auf dem Platz vor dem Rathaus zu Tode gefoltert. Ihre Leichen steckt man in drei große Eisenkörbe, die man am Turm der Lambertikirche aufhängt – zukünftigen "unruhigen Geistern zur Warnung und zum Schrecken", wie es der Autor Thomas Seifert formuliert.

Der Nachlass eines begeisterten Sammlers

Ich telefoniere mit meinem Vater und dessen Schwestern. Sie kennen die Legende natürlich auswendig, aber über eine faktenbasierte Überprüfung haben sie nie nachgedacht. Ich erfahre allerdings, dass Opa Stiegemann irgendwann einen Stammbaum angefertigt hat. Nur wisse keiner, wo der hingekommen ist. Am Ende knien mein Vater und ich in seiner Bibliothek, über Aktenkartons gebeugt. Opa Stiegemann war ein begeisterter Sammler. Er sammelte Briefmarken, seltene Orchideen – und auch ansonsten eigentlich alles. Die staubige Luft beißt in den Augen, als wir durch seine Krankenakte aus dem Lazarett blättern, in dem man ihm das Bein abnahm. Dann, nachdem wir uns durch Bauzeichnungen und alte Schulhefte gegraben haben, finden wir ihn: unseren Stammbaum. Eine Rolle Transparentpapier, mit kleinen Zettelchen beklebt. Opa Stiegemann hat hier die Verwandten seiner Frau und die eigenen penibel bis zur Geburt meines Ururururgroßvaters Johann Heinrich ins Jahr 1789 aufgelistet. Ein erster Erfolg – auch wenn noch kein Krechting auf der Liste auftaucht.

Havixbeck ist schon lange nicht mehr das Dorf, das Opa Stiegemann bei seinem Besuch kurz nach dem Krieg zu Gesicht bekommen hat. Heute leben hier 12.000 Menschen, darunter Freunde meiner Eltern. Wir waren früher häufiger bei ihnen zu Besuch. In Poppenbeck – heute nur noch fünf Autominuten vom Ortskern von Havixbeck entfernt – trotz der Familienlegende nie. Doch dort leben bis heute die entfernten Verwandten von uns, die ja auch Nachfahren des Wiedertäufers wären. Ich rufe im Münsterland an.

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"Guten Tag, mein Name ist Cornelius Stiegemann", sage ich. "Wer ist da?", fragt Josefa Stiegemann. "Cornelius Stiegemann, ich bin Journalist aus Bonn. Ich versuche eine Familienlegende zu überprüfen. Wenn Sie fünf Minuten Zeit haben, würde ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen." Ich komme mir wie ein Enkeltrickser vor. Anders als mein Großvater erhalte ich aber ein zögerliches "Ja". Also beginne ich mit meiner Geschichte von der möglichen Verwandtschaft mit dem Wiedertäufer. Denn wenn diese Verbindung wirklich besteht, müssten doch gerade die Verwandten, die die Region nie verlassen haben, davon wissen. Ob sie diese Legende kenne? Nein. Ich frage nach Stammbüchern. Ob da mehr als die letzten zwei Generationen drinstehen? Wieder ein Nein. Sie sei auch nur eingeheiratet und der Großvater habe nie von so etwas erzählt.

Eine E-Mail von Wilhelm Krüggeler erreicht mich. Nach dem Stammbaumfund hatte ich den Paderborner Genealogen um Hilfe bei meiner Recherche gebeten. Die Mail enthält drei Worte: "Es wird bunter." Im Anhang sind Fotos zweier Kirchenbuchseiten. Ich kann die Schrift nicht lesen, bitte Krüggeler um eine "Übersetzung". Das erste ist der Eintrag der Hochzeit von Henrich Morman und Anna Elisabeth Krechs (genannt Stegeman) aus dem Jahr 1787. "Sie müssen, was die Schreibweisen der Namen angeht, ganz frei werden", sagt Krüggeler. Die ändern sich zu dieser Zeit schnell, weil der Pfarrer die Namen der Bauern nach Gehör aufschreibt. Zwei Jahre später folgt die Taufe eines Jungen, meines Ururururgroßvaters: Johan Henrich Morman – genannt Stiegemann. Seine Mutter wird hier Maria Elisabeth Krechting geschrieben. Mir fällt beim Lesen die Kinnlade herunter.

Verwandtschaft oder Schreibfehler?

Diese Einträge muss auch Opa Stiegemann in den Kirchenbüchern gefunden haben, als er nach seinen Vorfahren gesucht hat. Diese Anna oder Maria Elisabeth könnte die gesuchte Verbindung zu den Wiedertäufern sein – vielleicht aber auch nur eine zufällige Namensgleichheit oder ein Schreibfehler. Um das zu überprüfen, brauche ich mehr Informationen. Ich stürze mich in die Kirchenbuchrecherche.

Als Hobby-Genealoge bin ich nicht allein. International suchen immer mehr Menschen nach ihren Ahnen. Egal ob Urenkel ausgewanderter Europäer oder vermeintliche Nachfahren von Karl dem Großen: Im Zeitalter des Internets erlebt die Ahnenforschung einen ungeheuren Aufschwung. Genealogie-Websites gehören zu den meistbesuchten Seiten im Internet. Mit drei Milliarden Personendaten bietet das Portal "FamilySearch" der Mormonen in Salt Lake City mit Abstand die meisten Datensätze. Ihre Wurzeln hat das Portal in der "Genealogischen Gesellschaft von Utah", die 1894 von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage gegründet wurde.

Eine Hand stützt sich auf einen Stapel Kirchenbücher im Archiv
Bild: ©stock.adobe.com/Christophe Fouquin

Ahnenforschung in Kirchenbüchern: Was nach nach staubigen Archivzimmern und schweren Büchern mit Ledereinband klingt, läuft heute online ab. Die deutschen und österreichischen Bistümer digitalisieren ihre Tauf-, Heirats- und Sterberegister seit einigen Jahren systematisch - und machen sie Genealogen kostenfrei zugänglich.

Aber längst gibt es unzählige andere Internetseiten, mit deren Hilfe man andere Datenbanken durchsuchen, Stammbäume erstellen oder sogar DNA-Tests machen kann. Man vernetzt sich und tauscht sich online über die eigenen Forschungen aus. Und auch die Suche selbst hat sich gewandelt. Ahnenforschung klingt nach staubigen Archivzimmern und schweren Büchern mit Ledereinband, die Realität ist aber weit weniger romantisch: Seit einigen Jahren digitalisieren die deutschen und österreichischen Bistümer systematisch ihre Kirchenbuchbestände und veröffentlichen sie im Online-Archiv "Matricula". Seit Mai letzten Jahres sind die Bestände des Bistums Münster vollständig hochgeladen, darunter die Kirchenbücher der Havixbecker Gemeinde St. Dionysius, die bis ins Jahr 1590 zurückreichen – immerhin fast "Wiedertäuferzeit". Statt brüchige Papierseiten umzublättern, scrolle und klicke ich mich nun durch die Jahrhunderte.

Wer war Anna Elisabeth Krechting?

Um das Taufdatum einer Frau zu finden, ziehen Genealogen für gewöhnlich 40 Jahre vom Geburtsjahr des letzten Kindes ab. Mich interessiert nicht nur dieser Eintrag, sondern auch noch, ob und wann sie in erster Ehe geheiratet hat. Denn Krechting scheint ihr Mädchenname, Stegeman vielleicht der Name ihres ersten Mannes zu sein. Deshalb wähle ich einen größeren Rahmen: Ich beginne im Jahr 1727 und notiere alle Täuflinge, Eltern und Paten, die entfernt nach Stiegemann, Krechting oder Morman klingen. Dabei hilft es nicht unbedingt, dass die Handschrift des Pfarrers auch aus Namen wie Hageman, Vorman, Mersman oder Kerckering etwas kreiert, was den gesuchten Namen oftmals zum Verwechseln ähnlich sieht.

Meine Exceltabellen füllen sich mit Taufdaten, dann mit Heiraten und Sterbefällen. Über ähnliche Namen und Taufpaten versuche ich vorangegangene Generationen zu rekonstruieren. Ich durchkämme meine Listen nach allem, was Anna Elisabeths Nachnamen auch nur entfernt ähnlich sieht und stoße tatsächlich auf einen Johan Bernd Krechting und seine Frau Maria Budde, die 1745 geheiratet haben und zwei Kinder 1746 und 1747 taufen ließen. Doch keins davon heißt Anna Elisabeth.

Die Seite eines Kirchenbuchs
Bild: ©data.matricula-online.eu/CC BY-NC-ND 2.0

Am 13. Oktober 1787 heirateten Henrich Morman (genannt Boothorn) und Anna Elisabeth Krechs (genannt Stegeman), meine Urururururgroßeltern.

Habe ich etwas übersehen? Es könnte durchaus sein, dass Anna Elisabeth als drittes Kind geboren wurde. Ich blättere also weiter, 1747, 1748, 1749 – dann nichts mehr. Die Einträge brechen einfach ab, erst im Jahr 1753 werden wieder Taufen aufgeführt. Barbara Steinberg vom Bistumsarchiv Münster kann mir auch nur sagen, dass die Aufzeichnungen für diese Jahre fehlen, aber nicht warum. Es gab keinen Pfarrerwechsel, keinen Brand und der Siebenjährige Krieg bricht erst 1757 über das Bistumsgebiet herein. Aber das tut auch nicht so viel zur Sache, denn Steinberg erklärt mir, dass der Anna Elisabeth nicht die Tochter der Krechtings gewesen sein könne, die ich da gefunden habe. Johan Bernd heiratet nämlich auf den Hof seiner Frau ein. Er und seine Kinder übernehmen den Hofnamen Budde als Nachnamen.

Familienforschung – zeitaufwendig und mitnichten immer von Erfolg gekrönt

Also alles wieder auf Anfang: Wer ist Anna Elisabeth Krechting und woher kommt sie? Einmal mehr erfahre ich, dass Ahnenforschung nicht nur sehr zeitaufwendig, sondern auch noch sehr enttäuschend sein kann. Sie könne mir auch nicht weiterhelfen, sagt Archivarin Steinberg. Sie habe bei ihren Recherchen keine Taufe und kein Todesdatum für Anna Elisabeth finden können. Der einzige, der das vielleicht noch wissen könnte, sei Helmut Börnemann. Der Genealoge habe vor über 40 Jahren damit begonnen, die Kirchenbücher ganzer Ortschaften systematisch auszuwerten. Anders als es bei Ahnenforschern üblich ist, die immer nur eine Familie durch die Aufzeichnungen zurückverfolgen, hat Börnemann das "big picture" angelegt – mittlerweile für 70 Ortschaften im Münsterland.

Eigentlich mache er so etwas nicht spontan, sagt Börnemann. Aber ich hätte Glück, die Kiste mit dem Material über Havixbeck stehe direkt an der Tür. Er notiert sich die väterliche Linie meines Stammbaums. Er arbeite ausschließlich mit Stift und Papier, sagt Börnemann. Kein Computer, kein Internet, nichts dergleichen. Damit dürfte er unter Ahnenforschern mittlerweile eine Seltenheit sein. Ich soll in einer halben Stunde nochmal anrufen.

Die Seite eines Kirchenbuchs
Bild: ©data.matricula-online.eu/CC BY-NC-ND 2.0

Eine lesbarere Fassung des Taufbucheintrags vom 25. Juli 1789: Die Mutter meines Ururururgroßvaters, Johann Heinrich, wird hier Maria Elisabeth Krächting geschrieben – die Pfarrer nahmen es damals mit der Orthogorafie nicht so genau.

30 Minuten später kann Börnemann mit Ergebnissen aufwarten, mit denen ich nicht gerechnet hätte: Anna Elisabeth Krechting stamme definitiv von außerhalb. Er könne keine Verbindung zu einer Havixbecker Familie herstellen. Das Haus, in das sie mit Henrich Morman zog, hatte noch um 1750 einer verarmten Witwe namens Stegeman gehört. Der einzige überlebende Sohn von Henrich und Anna Elisabeth, mein Ururururgroßvater, hat dann den Namen der Vorbesitzerin angenommen, obwohl er gar nicht mit ihr verwandt gewesen ist. Ansonsten ist Anna Elisabeth Krechting eine genealogische Sackgasse. Börnemann könne ihre Herkunft nicht eindeutig bestimmen, weil die Quellenlage schlicht zu dürftig sei. "Es ist ein konkreter Misserfolg", sagt der Genealoge und lacht.

Ein Misserfolg, der doch kein Scheitern ist

Was meine Recherche angeht, ist dieses Ergebnis aber eine Erfolgsmeldung: Es gibt nicht nur keine Verbindungen zu Havixbecker Familien, es gibt auch keine zu den Krechtings nach Schöppingen. "Eine Verwandtschaft mit den Wiedertäufern ist zu 99,9 Prozent ausgeschlossen, der Name allein heißt noch gar nichts", sagt Börnemann. Was die Wiedertäuferführer Heinrich und Bernd Krechting angehe, passiere das durchaus häufiger. Das funktioniert anscheinend in vielen Familien nach einer Art Stille-Post-Prinzip: Die erste Generation entdeckt den Namen Krechting irgendwo im Stammbaum und vermutet einen Zusammenhang mit den Wiedertäufern. Die nächste Generation wächst mit der Geschichte auf und glaubt sie, für die dritte ist sie schon Wahrheit. Börnemann sagt, man könne auf die mündliche Tradition nicht verzichten. Doch über 50 Prozent der Fälle könne man recht schnell als Fälschung oder Fantasieprodukt verifizieren.

Opa Stiegemann lag also falsch. Er hat in den Eintrag im Kirchenbuch mehr hineininterpretiert, als dieser hergab. Sein Glaube an diese Behauptung ist verständlich, schließlich ist die Verwandtschaft mit einem Wiedertäuferführer eine tolle Geschichte. Ich werde meiner Familie jetzt erklären müssen, dass die beliebte Erzählung nicht der Wahrheit entspricht. Wie das ankommen wird, weiß ich noch nicht. Im Laufe meiner monatelangen Recherche habe ich aber viel über meine tatsächlichen Vorfahren und die Lebensumstände im Münsterland gelernt. Auch wenn ich die "Familienlegende" widerlegt habe, bleibt mir also noch genug zu erzählen.

Von Cornelius Stiegemann