Gottfried Böhm: Der Schöpfer der "Betongebirge" wird 100
Mächtig und grau erheben sich die Klippen des Wallfahrtsdoms über den Dächern des kleinen Ortes Neviges nördlich von Wuppertal. In den grünen Hügeln des Bergischen Landes wirkt die Kirche wie ein Fremdkörper aus Eis oder Kristall. Und genauso fremdeln einige Menschen mit diesem Gotteshaus. Dabei soll es ihnen eigentlich ein Zuhause sein: Ein Zelt für das pilgernde Volk Gottes, ein weites Dach über dem Marktplatz, auf dem sich die Gemeinde um den Altar in ihrer Mitte versammelt. Mit dieser Idee und seinem selbstgekneteten Modell aus Plastilin begeistert der Architekt Gottfried Böhm den Kölner Kardinal Joseph Frings – viele Zeitgenossen allerdings nicht. Schon kurz nach der Einweihung bekommt der Mariendom den Beinamen "Gottesgebirge" verpasst.
Das Umstritten-Sein hat in Gottfried Böhms Familie zu diesem Zeitpunkt schon so eine Art Tradition: Der Vater, Dominikus Böhm, ist einer der wichtigsten Kirchenarchitekten der Vorkriegszeit. Der Architekt wird 1926 an die Kölner Werkschule berufen und beeinflusst die Sakralarchitektur der Moderne maßgeblich. Mit den großen Parabelbögen der Kirche St. Engelbert in Köln-Riehl erregt er sogar bis nach Rom Unmut. Auf einer Hochzeitsreise nach Italien begeistert er sich für den Campanile, den freistehenden Glockenturm. Als eine Art Markenzeichen wird er ihn in sein Werk aufnehmen – und auch der Sohn baut seine Kirchtürme später häufig etwas abseits. Gottfried Böhm wird als drittes Kind dieses Baumeisters am 23. Januar 1920 in Jettingen geboren. Eigentlich will er nicht die gleiche Laufbahn einschlagen wie sein Vater. Zu groß erscheinen ihm die Fußstapfen des Vaters. Stattdessen hat die Bildhauerei es ihm angetan.
Der Vater lässt den Sohn unabhängig arbeiten
Doch Dominikus erkennt das Talent seines Sohnes und lässt ihn Architektur studieren. Um seiner Leidenschaft Raum geben zu können, belegt Gottfried nebenher Kurse in Bildhauerei. Früh bindet der Vater ihn in sein Büro in Köln-Marienburg ein. Dort kann er neben Gemeinschaftsarbeiten auch unter eigenem Namen firmieren. Das führt dazu, dass Gottfried Böhm schon mit 27 Jahren seinen ersten eigenen Sakralbau plant und ausführen lässt: In den Ruinen der kriegszerstörten Kolumbakirche in Köln soll eine Kapelle für ein Gnadenbild entstehen, das den Feuersturm wie durch ein Wunder unbeschadet überstanden hat.
Auf den ersten Blick scheint in dieser Kapelle, die heute – sehr zum Missfallen ihres Erbauers – in den Komplex des Kölner Diözesanmuseums "Kolumba" integriert ist, der große Kirchenbauer schon angelegt zu sein: Über dem Altar wölbt sich die für Böhm-Bauten charakteristische Hängedecke aus Beton. Doch wer den Architekten schon mit seiner "Madonna in den Trümmern" zum lupenreinen Brutalisten erklären möchte, handelt vorschnell. Denn die Kapelle will Böhm gar nicht mit Beton bauen. Stattdessen ist sein Vorschlag, die Trümmer der zerstörten Kirche für den Bau zu verwenden. Es sind seine Auftraggeber, denen das nicht modern genug ist. Wenn er schon in neuen Formen bauen wolle, solle er doch Beton verwenden.
Dieser ist damals das Baumaterial der Stunde – auch für Sakralbauten. In den 1920er Jahren diskutiert man von kirchlicher Seite noch, ob Beton überhaupt ein würdiger Baustoff für Gotteshäuser sein kann. Auch Dominikus Böhm verwendet in seinen Kirchen hauptsächlich Ziegel oder Naturstein. Er experimentiert aber schon früh mit diesem Baustoff, der ihm als "ehrlich" und "bescheiden" gilt – und vor allem als vielfältig einsetzbar. Für eine Kirche, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg gleichsam neu aufstellen wie neu aufbauen muss, entwickelt sein Sohn den Umgang mit dem Material konsequent weiter.
Expressionismus? Brutalismus? Böhm-Stil!
Neben dem Frühwerk St. Kolumba und dem Mariendom in Neviges, der von Architekturexperten als sein Hauptwerk gewertet wird, hat Böhm im Laufe seiner Karriere fast 70 Kirchen entworfen und an vielen weiteren mitgearbeitet. Bei St. Gertrud verwendet er klassisch-brutalistisch unverputzten Beton, in der nur ein Jahr später begonnenen Kirche St. Albertus Magnus in Bochum-Wiemelhausen, verkleidet er den Beton aber wieder mit Ziegeln. Die Frage nach einer stilistischen Zuordnung fällt bei Böhm daher schwer. Der Kölner Erzdiözesanbaumeister Martin Struck kennt das Problem: "Man widerspricht sich dauernd, wenn man Böhms Gesamtwerk bespricht."
Man könne Böhm keiner architektonischen Stilrichtung oder Mode zuordnen. Denn der Architekt habe immer auf eine gewisse Art zeituntypische Architektur gemacht. Auch wenn der Mariendom oder St. Gertrud mit ihren rauen Waschbetonwänden klar erkennbar brutalistische Bauten sind, habe Böhm sie entworfen als andere Architekten längst Fertigbetonteilen verwendeten. "Kein Mensch baute zu dieser Zeit noch Ziegelmauern oder Betonwände von einem Meter Dicke." Der Architekt Böhm ist eben immer auch Künstler. Die Modelle seiner Gotteshäuser knetet er mit Plastilin und will sie als Skulpturen verstanden wissen.
Dadurch entsteht der Eindruck, Böhm sei seiner Zeit hinterher gewesen. "Nach dem Krieg wollte man klare und weite Sakralräume. Sie sollten modern sein und den gesellschaftlichen Fortschritt ausdrücken.", sagt Struck. Böhm gestaltete stattdessen Kirchenfenster in dunkelbau und rot. "Heute sitzen die Leute in seinen Kirchen und sagen: 'Das ist sakral und mystisch. Hier kann ich mich zurückziehen, hier kann ich beten.' Die Kirchen der anderen Architekten, die das rationalistischer angegangen sind, wirken heute wie Schuhkartons."
Ende der 1960er Jahre flaut der kirchliche Bauboom ab. Gottfried Böhm erfindet sich beim Planen von öffentlichen Bauten, Bürogebäuden, Theatern, Museen und Wohnhäusern neu. Er wendet sich auch neuen Materialien zu und nutzt vermehrt Stahl und Glas. Noch während des Baus der Kolumbakapelle heiratet Gottfried Böhm die Architektin Elisabeth Hagenmüller (1921-2012). Das Paar bekommt vier Söhne, von denen drei später ebenfalls Architektur studieren. Wie sein Vater ihn miteingebunden hat, bezieht Gottfried Böhm auch seine Söhne mit in die Arbeit im Architekturbüro der Familie ein.
Ein Hundertjähriger mit eiserner Disziplin
Heute leiten die drei Brüder das Büro längst selbst. Paul Böhm verantwortet zum Beispiel den Bau der Kölner Zentralmoschee – ebenfalls ein spannendes und nicht unumstrittenes Gotteshaus. Auch wenn er nur noch beratend hinzugezogen wird, treibt eine eiserne Disziplin den Vater jeden Morgen in die von Dominikus Böhm entworfene Villa in Köln-Marienburg, die die Büroräume beherbergt. Dort sitzt der Hundertjährige im verglasten Erker des Konferenzraums und trinkt eine Tasse Kaffee. Kirchen knetet er nicht mehr, stattdessen zeichnet er mit großer Begeisterung.
Sein Werk beschäftigt die Menschen weiter. Einer, für den dieser Satz wörtlich gilt, ist Erzdiözesanbaumeister Struck. Der unverputzte Beton erweist sich nämlich als nicht so widerstandsfähig wie gedacht. Auch der Dom in Neviges hat schnell undichte Stellen bekommen. Zunächst versucht man die Ritzen und Löcher im Beton mehr oder weniger erfolgreich mit Blei abzudichten. Das Erzbistum Köln lässt nun das Nevigeser "Gottesgebirge" aufwendig sanieren.
Mit Blick auf sinkende Mitgliederzahlen stellt sich natürlich die Frage, wozu die kostspielige Konservierungsarbeit einer Kirche für 6.000 Menschen gut sein soll. "Man darf Kirchen nicht rein funktionalistisch denken. Sobald eine Person dort hinein geht und betet, wird sie genutzt. Egal ob gerade Liturgie gefeiert wird oder nicht", betont Struck. Außerdem sei eine Kirche auch ein Statement, ein Monument der Gottsuche und Transzendenzvorstellungen ihrer Zeit.
Und gerade die Kirchen von Gottfried Böhm böten auch kleiner werdenden Gemeinden Anschlussmöglichkeiten. Die vieleckigen Räume mit ihren Nischen, Seitenkapellen oder Emporen "sind sehr heterogen und können verschiedenen liturgischen Zwecken dienen", sagt Struck. Wenn der Hauptraum des Nevigeser Wallfahrtsdoms zu groß ist, können nachfolgende Generationen auch in der Gnadenkapelle oder in einem anderen Teil des Gebäudes zusammenkommen. Böhms Sakralbauten orientieren sich bei all ihrer Monumentalität an den Proportionen des Menschen. Sein Gespür dafür, wie der Mensch Raum erfasst und wie er sich darin bewegt, bestimmt die Treppenführung und Gestaltung der Fenster genauso wie das Mischverhältnis des Waschbetons. Weil sie ihren Bezug zum Menschen nicht verlieren, haben seine Sakralkunstwerke bei aller Bunkeranmutung Zukunftsaussichten.
Vielleicht sind das die Gründe, warum bisher – bei aller Schmähung der Betonarchitektur – noch keine Böhm-Kirche abgerissen worden ist. "Wenn ein Pfarrer heute fünf Kirchen hat und drei davon sind modern", sagt Struck, "dann geht es immer zuerst den modernen Kirchen an den Kragen." Bei Kirchen von Böhm ist das anders. Denn auch wenn eine Kirche wie St. Gertrud in Köln nicht mehr für Gottesdienste genutzt wird, verlangt niemand ihren Abriss. "Es gibt andere Architekten, die haben es nicht so gut gemacht und deren Bauten stehen in der Tat auf der Abschussliste. Die Architektur ist das, was die Kirche hält. Gerade Böhm gefällt den Leuten, er hat einfach gute Architektur geschaffen."