Von der größten Kirche der Welt blieb nur ein Stumpf übrig
Über Jahrhunderte war an dieser Stelle ein Steingebirge. Ein Jahrtausendkunstwerk. Die gewaltigste Kirche der Welt. Heute ist nur ein Torso übrig, weniger als ein Zehntel von damals: ein paar Mauerreste, Säulenstümpfe, der Grundriss – und ganz weit hinten rechts ein Seitenturm, der allein an Größe und Pracht jeder Kirche in Burgund zur Ehre gereicht hätte. Doch hier in Cluny war er nur einer von sechs, plus Glockenturm.
Wer nur die Außenmauern mit ihren zwei Querschiffen und zwölf Apsiden umrunden wollte, musste 620 Meter zurücklegen. In Länge und Breite hätte dieses monumentale Gotteshaus so ziemlich exakt die Öffnung des Berliner Olympiastadions ausgefüllt – allerdings hätten die Türme noch um einiges aus der 40 Meter hohen Dachkonstruktion herausgeguckt.
Mutterkirche eines mächtigen Klosterimperiums
Die romanische Kirche von Cluny, entstanden zwischen 1088 und 1230, war die Mutterkirche eines mächtigen Klosterimperiums. Der Reformorden, gegründet 910 als ein einfaches Kloster von frommen Erneuerern des benediktinischen Armutsideals, unterlag einer paradoxen Entwicklung: Mit ihrer asketischen Strahlkraft zogen die Ordensleute Tausende Anhänger in ganz Europa – und unzählige Stiftungen, mit denen der Adel der Zeit sein ewiges Seelenheil zu befördern wünschte.
Immer mehr Adlige übertrugen Cluny die Quasi-Regentschaft über ihre Eigenklöster, denen es an Disziplin mangelte. So wurde aus der radikal armen Bewegung schnell ein reiches und mächtiges Klosterimperium: die Cluniazenser. Schließlich lebten mehr als 10.000 Mönche in rund 1.400 Klöstern in ganz Europa und 2.000 Besitztümern, von der Lombardei bis nach Schottland. Cluny hatte sich zu einem geistlichen Zentrum der gesamten Christenheit entwickelt. Seine Architektur, seine Kunst, seine geistliche Impulse strahlten auf ganz Europa aus.
Im Januar 1120, vor 900 Jahren, wurde in Cluny der 1109 gestorbene Abt und Bauherr Hugo von Papst Calixt II. heiliggesprochen und in seiner noch unvollendeten Kirche beigesetzt. 1130 waren Chor, langes Querschiff und Mittelschiff fertiggestellt, und Papst Innozenz II. weihte das Gotteshaus. 1135 wurde mit dem Bau der großen Eingangshalle (Narthex) begonnen.
Der Repräsentationswille führte Cluny in den Niedergang
Doch dieser Repräsentationswille des Vorzeige-Christentums von Cluny führte – irrationalerweise – in den Niedergang. Die Kosten für die riesigen Bauten brachten den Tanker allmählich ins Schlingern, trotz des damals größten Geldvermögens in Europa. Mitte des 12. Jahrhunderts hatte der Orden seinen geistlichen Zenit bereits überschritten. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts verzögerten wirtschaftliche Schwierigkeiten die Bauarbeiten; erst 1230 konnte die Kirche vollendet werden.
Dennoch hatte Cluny auf hohem Niveau noch einige gute Jahrhunderte. Erst in der Französischen Revolution wurde die Abtei 1790 geschlossen, die unschätzbaren Archive 1793 verbrannt. 1798 wurde die Klosterkirche an privat verkauft. Ein Händler machte 1801 eins der größten Gesamtkunstwerke der Christenheit, völlig intakt, zum schnöden Steinbruch. Mit den ersten Abbruchsteinen wurde eine Straße mitten durch das Hauptschiff gelegt; dort, wo heute der Museumseingang an den Vorplatz grenzt.
Um 1810 waren Hauptschiff und Vorhalle fast ganz verschwunden, bis 1812 die beiden Vierungstürme und das nördliche Querhaus. Selbst als die Behörden 1818 einen sofortigen Stopp der Abbrucharbeiten anordneten, wurde noch hastig weitergemacht: Die Apsiswand verschwand und fast alle Apsiskapellen. Erst 1820, vor 200 Jahren, kam das Zerstörungswerk zum Halten. 1862 wurden die Klostergebäude und der verbliebene Rest der Kirche unter Denkmalschutz gestellt.
Touristen werden fast zwangsläufig enttäuscht
Im 21. Jahrhundert hat Cluny ein Problem mit der Visualisierung. Touristen, die herkommen, um die einst riesigste Kirche der Welt zu sehen, werden fast zwangsläufig enttäuscht. Zu wenig ist übrig von dem Prachtbau mit seinen fünf Längsschiffen, zwei Querschiffen, der Apsis mit Säulengang und fünf halbrunden Kapellen. Die künstlerischen Ideen von Cluny lassen sich am besten nachempfinden in Paray-le-Monial und Autun, die die architektonische Gliederung des Langhauses imitieren, und in der kleinen Kapelle von Berze-la-Ville, dem Sommerrefugium von Abt Hugo, deren fantastische Fresken aus der Werkstatt von Cluny stammen.
17 Millionen Euro investierte der Europäische Fonds für Regionale Entwicklung zum 1.100-jährigen Bestehen der Abtei 2010 in die Restaurierung von Cluny III. Ein Produkt der Bemühungen um Veranschaulichung ist der Film "Maior Ecclesia", der Bestandteil der Ausstellung im Archäologischen Museum ist. Seine beeindruckenden Computersimulationen sind das bislang beste Hilfsmittel, um dieses verlorene Kulturerbe der Menschheit zurückzuholen.