Thierse: Religion hat auch in Demokratien noch längst nicht ausgedient
Aus Sicht des früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse werden Glaube und Religion eine große gesellschaftliche Bedeutung behalten. "Als Quelle von Widerspruch und Widerstand hat christlicher Glaube, hat Religion noch längst nicht ausgedient", schreibt der SPD-Politiker in einem Beitrag für das österreichische theologische Portal "feinschwarz.net" (Freitag). Solange "politische Heilslehren durch die Welt geistern" und die Welt von "menschenerniedrigender Ungerechtigkeit" gezeichnet sei, brauche es ein Aufbegehren dagegen aus religiösen Überzeugungen.
Die Quelle dieses "störrischen Sinnes" von Religion sei die christliche Überzeugung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, so Thierse. Daraus folge eine "radikale Vorstellung von der gleichen Würde jedes Menschen" und daraus wiederum der Antrieb, gegen Ungerechtigkeiten, Gewalt und Unterdrückung anzukämpfen. "Dieser spezifische Freiheitssinn ist der eigentliche und tiefe Ur-Grund für den Widerstand von Christen, von religiösen Menschen gegen autoritäre Regime und Diktaturen."
Auch Demokratien brauchen Religion
Zeugen dieses Widerstands seien Christen wie die NS-Gegner Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp oder die Geschwister Scholl ebenso wie der ermordete Bischof Oscar Romero, Erzbischof Dom Helder Camara, die polnische Freiheitsbewegung Solidarnosc oder die friedliche Revolution von 1989 in der damaligen DDR, schriebt Thierse. Aber auch demokratische Gesellschaften, die vom Engagement ihrer Bürger lebten, brauchen nach seinen Worten Religion und Religionsfreiheit, da sie Ideen für ein gutes und gelingendes Leben enthielten.
Wo Hoffnungen mit der Realität kollidierten, entstehe ein Potenzial, das Demokratie letztlich vorantreibe. Daher sei auch wichtig, dass Religion nicht aus der Öffentlichkeit verschwinde: "So sehr die Zahl der Konfessionslosen, Agnostiker, Atheisten zunehmen mag, so wenig verschwindet Religion offensichtlich aus dem privaten wie öffentlichen Leben in unserer Gesellschaft - als Sinnstiftung individuellen Lebens, als Motivation für soziales Engagement, als Sensibilität für Mitleiden und Vergeben, als normative Bindekraft für eine zerklüftete Gesellschaft."
Thierse war von 1998 bis 2005 Bundestagspräsident und von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident. Von Juni bis September 1990 war er Vorsitzender der neu gegründeten SPD der DDR, von 1990 bis 2005 Stellvertretender SPD-Vorsitzender. Thierse engagiert sich auch im Zentralkomittee der deutschen Katholiken (ZdK), wo er sich unter anderem für klare Positionen der katholischen Laien gegen die AfD und Fremdenhass einsetzt. (cst/KNA)