Kardinal Marx gibt in seinem neuen Buch den Freiheitskämpfer
"Ich möchte ein freier Mensch sein", schreibt der Münchner Kardinal Reinhard Marx in seinem neuen Buch. Frei zu sein, sollte das Erkennungszeichen der Christen sein. Warum aber haben so viele Zeitgenossen den Eindruck, der Glaube führe zum Gegenteil, zu Fremdbestimmung und Unterwerfung? Für Marx ist klar: Hier handelt es sich nicht nur um Missverständnisse. Die Kirche hat ihren eigenen Anteil daran, und den muss sie aufarbeiten. Das ist für den 66-Jährigen der stärkste Antrieb für Reformen.
Gleich zu Beginn seines Essays wartet Marx mit einem Bekenntnis auf: Freiheit sei ihm "zum Lebensthema" geworden, seit er als Heranwachsender den Raum zwischen Möglichkeiten und Grenzen auszuloten begann. Mit dem Ergebnis, räumt er ein, war er vor allem auf den Gebieten des Sports und der Musik nicht immer zufrieden. Inzwischen trägt der Westfale die Freiheit auch im Wappen. Seinen Wahlspruch zur Bischofsweihe 1996 in Paderborn fand Marx bei Paulus: "Wo aber der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit."
In zehn Anläufen umkreist der Autor das "große Wort", das "leicht unter Wert gehandelt wird". Dabei arbeitet er sich an einer zentralen Frage ab: Wie konnte es zum Bruch zwischen dem christlichen Freiheitsverständnis und der modernen Freiheitsidee kommen? Marx spricht von einer "großen Tragödie".
Marx spricht von einer "großen Tragödie"
Der biblische Gott sei ein Gott der Befreiung, schreibt der Kirchenmann. Er habe den Menschen in Freiheit geschaffen und wolle, dass er auch in Freiheit darauf antworte. Dazu braucht es Religions- und Gewissensfreiheit. Ihre Verurteilung als "pesthaftesten Irrtum" durch Papst Gregor XVI. im Jahr 1832 findet der Kardinal daher "deprimierend". Er bedauert auch, dass die Kirche im Kampf um ihre Freiheit von staatlicher Bevormundung zunächst nur ihr Eigeninteresse verfolgt und erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) verstanden habe, "dass der Einsatz für die Freiheit des christlichen Glaubens den Einsatz für die Freiheit aller einschließt".
Warum aber hat die Kirche erst so spät zu dieser Einsicht gefunden? Weil auch sie nicht der Versuchung habe widerstehen können, Macht über Menschen auszuüben und Angst zu schüren. Ja, schreibt Marx, bis heute begegne er in der Kirche vielen, "die im Grunde ein reines Gehorsamsverhältnis zu Gott propagieren und damit den Gedanken der Freiheit nicht wirklich in ihren Glauben integrieren". Und die, Bischöfe eingeschlossen, "nach wie vor zu stark orientiert sind an Selbsterhaltungsstrategien". Marx lässt offen, ob er dabei seine Erfahrungen in Rom oder als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz im Blick hat.
Dass es der Münchner Erzbischof mit tiefgreifenden Reformen ernst meint, darf man ihm - nicht erst nach der Lektüre dieses Buches - abnehmen. Dafür hat ihn nicht zuletzt der Missbrauchsskandal seit 2010 nachhaltig erschüttert. Doch wie weit er dabei zu gehen bereit ist, lässt sich nicht immer genau einschätzen. Zum Beispiel in der Frauenfrage, die in seinem Band vergleichsweise viel Platz einnimmt.
Miteinander von Frauen und Männern als Indiz
Marx schreibt, an einem partnerschaftlichen Miteinander von Frauen und Männern zeige sich besonders, "ob die Kirche ein Zeichen der Freiheit ist oder an überholten Unter- und Überordnungsmodellen festhält"; er singt das Hohelied auf gemischt-geschlechtliche Teams ("tun der ganzen Kirche gut"); bekennt sich zum Ziel, den weiblichen Anteil unter den Führungskräften deutlich zu erhöhen, und das nicht nur verbal.
In keinem anderen deutschen Bistum finden sich so viele weibliche Spitzenkräfte wie in München-Freising. Die auch im Synodalen Weg kontrovers verhandelte Frage nach Weiheämtern für Frauen streift der Kardinal aber nur ("muss weiter diskutiert werden"), ohne eine eigene Position zu formulieren.
Marx sieht aber nicht nur die Kirche, sondern die ganze Welt am Scheideweg. Ein Rückfall in überkommenen Autoritarismus und Nationalismus ist für ihn nicht gebannt. Eine ungezügelte Akkumulation von Kapitalvermögen und auch eine mögliche Verselbstständigung des technischen Fortschritts im Zuge der Digitalisierung beschreibt er als aktuelle Gefährdungen der Freiheit.
Dass dazu auch ein winziges Virus gehören könnte, das hat auch Marx erst zu spüren bekommen, als das Manuskript schon beim Verlag abgegeben war.