Der evangelische Gottesdienst: Zwischen Predigt und Abendmahl
Wer als Katholik einen evangelischen Gottesdienst besucht, kann leicht verwirrt werden: Manche Feiern sind von katholischen Messen kaum zu unterscheiden, selbst die Gebete beim Abendmahl sind wortgleich zu denen der Messe. Andernorts kann der Gottesdienst wiederum karg und schlicht sein – und damit weit weg von der mit Gesängen durchsetzten feierlichen katholischen Form.
Das liegt an zwei verschiedenen Gottesdienstformen im Protestantismus, die auf unterschiedliche Wurzeln zurückgehen. Da ist zum einen die vor allem aus dem nord- und ostdeutschen Raum stammende lutherische Messe. Hier gibt es mit Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus Dei die gleichen Gesänge wie im katholischen Pendant. Die Predigt kann zwar etwas länger sein, im Grunde unterscheidet sich die lutherische Messe aber nur unwesentlich von der katholischen. Prominente Ausnahme das Abendmahl: Während nach katholischem Verständnis Brot und Wein tatsächlich zu Leib und Blut Jesu werden, ist das Abendmahl in den evangelischen Kirchen ein Zeichen, die katholische Transsubstantiationslehre wird abgelehnt. Stattdessen lehrt die evangelische Theologie: Jesus Christus ist im Mahl unter den Gaben von Brot und Wein selbst gegenwärtig.
Deutlich anders ist der oberdeutsche Predigtgottesdienst, der aus der reformierten Tradition in Straßburg, Basel und Zürich herrührt. Vorbild sind die sogenannten Prädikanten- oder Predigtgottesdienste, die es in Südwestdeutschland und in der Schweiz schon im Mittelalter gab. Hier liegt der Fokus ganz auf der Predigt, ein Abendmahl oder Messgesänge gibt es nicht. Kürzer als andere Feiern sind die Predigtgottesdienste allerdings nicht, denn die Auslegung der Bibel dauert hier oft nicht unter einer halben Stunde – für Katholiken also schier unendlich lang.
Die Predigt spielt die erste Geige
Im reformierten wie auch im lutherischen Gottesdienst nimmt die Predigt generell einen anderen Stellenwert ein als im katholischen. "Die Pfarrerin oder der Pfarrer wird im evangelischen Gottesdienst nicht in erster Linie als Zelebrant, sondern als Prediger wahrgenommen", beschreibt es Michael Meyer-Blanck. Der Bonner Religionspädagoge war von 2006 bis 2019 Vorsitzender der Liturgischen Konferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland. Während sich die katholische Homilie auch auf mehrere Texte des Gottesdienstes beziehen kann und in der Regel sieben bis acht Minuten dauert, wird in der protestantischen Predigt einer der drei vorgetragenen Texte im Hinblick auf die aktuelle Lebenswelt, die kirchliche Lehre und deren biblischen Zusammenhang ausgelegt – in gerne mal 15 bis 20 Minuten.
Programmatisch im Hinblick auf den Inhalt einer Predigt gilt, was Martin Luther im ersten Gottesdienst in der Torgauer Schlosskapelle, einem der ersten für den evangelischen Gottesdienst gebauten Kirchen weltweit, sagte. Es solle in diesem Haus "nicht anderes darin geschehe, denn dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang". Die protestantische Predigt ist also mehr als ihr katholisches Gegenstück Ausdruck einer Kommunikation mit Gott, sie ist persönlicher. "Luther ging es ganz stark um das Verstehen der Gläubigen im Gottesdienst. Es sollten nicht einfach Riten abgefeiert werden, sondern das Herz bewegt werden", sagt Meyer-Blanck. Deshalb ist die Predigt nach Luther weniger rhetorisch, sondern eher auf Individualität und Aktualität ausgelegt. "Allerdings bekommt sie dadurch manchmal auch einen pädagogischen Touch – und das kann auch nach hinten losgehen", so der Religionspädagoge.
Auch in der Auswahl der Texte liegt ein kleiner Unterschied zum katholischen Brauch: Während in der katholischen Messe die Texte in einem Dreijahresrhythmus rotieren, werden im Protestantismus im Prinzip immer die gleichen Texte gelesen. Aber nur im Prinzip. Denn es gibt zu den festgelegten drei Lesungen aus dem Alten Testament, den Evangelien und den Briefen oder der Apostelgeschichte noch weitere Texte zu jedem Sonntag, die sogenannten Predigttexte – die als eine Art Reservoir verstanden werden können. Von den evangelischen Kirchen in Deutschland gibt es einen festgelegten Rhythmus, auf welchen Text wann gepredigt wird. Manchmal ist es kein Text aus der Auswahl des Sonntags, sondern einer der Predigttexte. Wenn einer davon zur Predigt ansteht, wird der eigentlich vorgesehene Sonntagstext aus dieser Kategorie ersetzt – wenn etwa der Predigttext aus den Briefen stammt, wird die eigentlich vorgesehene Epistellesung zu dessen Gunsten weggelassen. Der reformierte Predigtgottesdienst geht hier in seiner Reinform einen radikalen Weg: Hier soll kein Text gelesen werden, auf den nicht auch gepredigt wird – folglich gibt es nur eine Lesung.
Mischung und Erweiterung
Diese Reinformen sind allerdings in erster Linie ein Produkt der Reformationszeit. Heute sind auch Mischformen möglich. So feiern auch viele lutherisch geprägte Gemeinden nicht jeden Sonntag das Abendmahl, sondern oft nur einmal im Monat. Auf der anderen Seite ist es durchaus möglich, in einem Predigtgottesdienst auch ein Abendmahl zu feiern.
Das eine zu tun oder das andere zu lassen, wird unter dem Begriff "Formfreiheit" zusammengefasst. Jede Gemeinde oder auch Landeskirche darf in der Gottesdienstgestaltung ihren eigenen lokalen Traditionen folgen. Im Prinzip soll sich aber immer für eine Grundform entschieden werden, eine wilde Kombination unterschiedlicher Ordnungsbestandteile ist nicht vorgesehen. Abgewichen werden darf von den Grundformen allerdings für besondere Gottesdienste, etwa für Kinder, Familien oder Konfirmanden. Generell haben Gemeinden etwa die Möglichkeit, beispielsweise viel zu singen oder manche Gebete und Gesänge wegzulassen und eher auf eine schlichtere Art zu feiern.
Im Zuge dieser Formfreiheit stellt Meyer-Blanck auch seit einigen Jahrzehnten eine Annäherung der Gottesdienstformen von Katholiken und Protestanten fest. "Während man durch das Zweite Vatikanische Konzil durchaus von einer Annäherung der katholischen Messe an den protestantischen Gottesdienst sprechen kann, lässt sich aber auch eine Katholisierung des evangelischen Gottesdienstes beobachten." Das drücke sich beispielsweise darin aus, dass beim Abendmahl nicht nur ein einleitendes Gebet vor der Austeilung gesprochen werde, sondern die katholischen Textformeln übernommen würden.
Wie die Reformbestrebungen in der katholischen Kirche auch kommt die Tendenz zu mehr Ritualen aus der liturgischen Bewegung der 1920er und 1930er Jahre. Seitdem haben nach und nach deutlich mehr Zeichen und Symbole ihren Weg in den protestantischen Gottesdienst (zurück-)gefunden. Der intensiver gewordene ökumenische Austausch der vergangenen Jahrzehnte tat sein Übriges.
Im Grunde wollen Gottesdienste aber immer das gleiche, egal ob evangelisch oder katholisch: Die Gläubigen hören durch Bibellesungen das Wort Gottes und antworten durch Gebete und Gesänge. Deshalb spielt die konfessionelle Prägung in den Augen von Meyer-Blanck spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch keine so große Rolle mehr: "Wichtig ist, dass gut gebetet wird. Wenn es gelingt, durch das Gebet eine Verbindung zwischen Gott und den Menschen herzustellen, ist die Konfession, die draußen dransteht, nachrangig."